»Ich habe Euch bereits vor Jahren gewarnt. Ihr hättet auf mich hören sollen. Zuversicht allein wird uns nicht vor der Erfüllung der Prophezeiung bewahren.«
»Dann bleibt uns immer noch die Hoffnung.«
Snowflake stand einen Moment wie versteinert hinter dem Vorhang und wagte nicht, sich zu bewegen. Sie hatte nicht lauschen wollen. Es war einfach so passiert. Alles, was sie getan hatte, war, in dieser Nische hinter einem alten Samtvorhang zu sitzen und zu lesen, als sie die Stimmen bemerkte. Sie wollte nicht entdeckt werden und verhielt sich deshalb still. Vielleicht hätte sie sich die Ohren zuhalten sollen, doch die Neugier war stärker gewesen. Nun wusste sie nicht, ob es gut war, dass sie es gehört hatte.
Ein heftiges Kribbeln zuckte in ihren Fingerspitzen. Etwas, das sie bis vor wenigen Tagen noch nie verspürt hatte. Ein einzelner Funken löste sich von ihrer Hand, die sie erschrocken zur Faust ballte. Was geschah nur mit ihr? Nie war da etwas gewesen und nun plötzlich das? War es das, wovon die Regentin gesprochen hatte? Aber in ihr gab es doch keine Magie. Jedenfalls wurde ihr das immer erzählt.
Was immer es war, das da in ihr erwachte, sie durfte niemandem davon erzählen. Sie musste dagegen ankämpfen. Keiner durfte davon erfahren, denn sonst wäre ihr Leben noch einsamer, als es ohnehin schon war.
Kapitel 1
»Beim heiligen Schneesturm! Haltet endlich still, Prinzessin«, schimpfte die königliche Hofschneiderin und verzog missgelaunt den Mund. »Wie soll ich den Saum Eures Ballkleides abstecken, wenn Ihr herumzappelt wie ein im Netz gefangener Fisch?«
Empört kniff Madame Fleur die Augen zusammen, sodass ihr Monokel hinabfiel und über ihrer ausladenden Brust an einer Silberkette baumelte. Snowflake fühlte den kritischen Blick beinahe körperlich. Unwillkürlich fragte sie sich, wie die Hofschneiderin es schaffte, sich in all diese Mieder und Stoffbahnen gequetscht überhaupt noch zu bewegen.
»Mon dieu, keiner soll behaupten können, Madame Fleur hätte das Kleid der Prinzessin verpfuscht!«
Snowflake bemühte sich ja stillzustehen, doch seit einer Stunde balancierte sie nun schon auf diesem Podest, während die Schneiderin und ihre Gehilfinnen an ihr herumzupften, dort absteckten, hier Maß nahmen, sie mit Nadeln pikten oder einfach nur dastanden, die Köpfe zusammensteckten und miteinander beratschlagten. Dabei warfen sie immer wieder undefinierbare Blicke in ihre Richtung, unter denen sich die Prinzessin unwohl zu fühlen begann. Sie erinnerten Snowflake an schnatternde Gänse. Und mit den Federboas, die sie nach neuester Mode um den Hals trugen, sahen sie auch beinahe so aus. Als wäre es nicht schon schlimm genug gewesen, den halben Tag mit Meister Lotan zu verbringen, dessen Unterricht wenig anregend war. Sie musste auch noch hier herauf in dieses zugige königliche Ankleidezimmer kommen. Es war einstmals von ihrem Vater für ihre Mutter eingerichtet worden und wurde nur noch selten genutzt, seit ihre Eltern nicht mehr lebten. In dem Zimmer roch es muffig und ein Teil der Möbel war mit weißen Stoffbahnen bedeckt, um sie vor dem Verstauben zu schützen. Dennoch gab es hier genug Staub, der sie lästig in der Nase kitzelte, sodass sie nur mühsam ein Niesen unterdrücken konnte.
Snowflake mochte diesen Raum nicht, bedeutete es doch für sie, sich nicht rühren zu dürfen, wenn sie erst einmal hier drinnen war. Dann kam sie sich vor wie eine Schneiderpuppe, die Madame Fleur gnadenlos ausgeliefert war. Jedes Mal. Schon seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Sie seufzte. Alles Jammern und Klagen half nichts. Es würde niemand kommen, um sie zu retten. Kein Ritter in schimmernder Rüstung. Kein stattlicher Prinz auf einem Schimmel. Egal wie sehr sie es sich in diesem Moment wünschen mochte. Sie schaffte es ja nicht einmal, sich einfach in Luft aufzulösen oder schlicht unsichtbar zu werden.
Viel lieber wäre sie jetzt im Festsaal und würde beim Dekorieren für das bevorstehende Winterfest helfen, dem größten alljährlichen Ereignis dieses Königreichs, zu dem alle Bewohner der umliegenden Dörfer kamen, um gemeinsam fröhlich und ausgelassen zu feiern.
»Prinzessin, hört auf herumzuzappeln«, schalt sie die Schneiderin erneut und schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Wie soll ich meinen Zauber mit Nadel und Faden wirken, wenn Ihr mich und meine Arbeit derart sabotiert? Das Winterfest ist in zwei Tagen und auf uns wartet noch eine Menge Arbeit. Schlaflose, arbeitsreiche Nächte, um für Euch ein Meisterwerk zu schaffen, wie es bisher keiner jemals gesehen hat.« Madame Fleur hielt kurz inne, bevor sie erneut ihre Finger virtuos tanzen ließ, sodass sich die Nähutensilien wie von Zauberhand bewegten und ihre Tätigkeit fortsetzten. »Wäre es denn zu viel verlangt, wenn Ihr mir und meinen Kreationen etwas mehr Respekt entgegenbringen würdet? Ich bin mir sicher, dass ich ein wenig Achtung verdient habe. Immerhin habe ich bereits die Kleider Eurer Mutter genäht. Und sie hielt still, wenn an ihr gearbeitet wurde.«
Snowflake hörte der Schimpftirade der Hofschneiderin nicht länger zu und hing stattdessen ihren eigenen Gedanken nach.
Die Prinzessin wusste, wie sie selbst den Festsaal dekorieren würde: Fichtenzweige mit silbernen Bändern umwickelt, Stechpalmenzweige mit leuchtend roten Beeren, bunte Girlanden und mit Glasornamenten geschmückte Tannenbäume. Snowflake liebte besonders diese Ornamente, die im Licht funkelten und glitzerten wie geschliffene Diamanten. Geformt wie kleine Schneeflocken, jede einzigartig wie in der Natur. Es gab Schneemänner, Tannenzapfen, sogar tanzende Einhörner, die magischen Schnee aufwirbelten, und so viele verschiedene andere Formen und Figuren, dass es eine wahre Freude war. Dafür waren die Glasbläser bis weit über die Grenzen von Winter hinaus bekannt und trieben damit Handel. Auf dem Fest würde nicht nur der gläserne Schmuck funkeln. Alles würde glänzen, blitzen und schimmern, beleuchtet von Hunderten weißer Kerzen, die extra für das Winterfest gezogen und mit Schneeflocken aus silberfarbenem Wachs verziert wurden. Das warme Licht der kleinen tanzenden Flammen schuf stets eine Atmosphäre, die Snowflake das Herz mit Freude erfüllte und ihr ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Die Wärme des Kerzenscheins spiegelte sich in den Augen und auf den Gesichtern der Menschen wider. Für einen Abend kannte niemand Kummer oder Sorgen. Alle erfreuten sich am Tanz, am Essen und an der Gemeinschaft. Doch statt beim Dekorieren helfen zu können, musste sie die Qual einer Anprobe hinter sich bringen. Es fiel ihr schwer, ein Seufzen zu unterdrücken.
»Autsch«, entfuhr es ihr, als sie erneut von einer Nadel gepikt wurde.
»Stellt Euch nicht so an, Prinzessin«, tadelte Madame Fleur. »Immerhin werdet Ihr durch meine Kunst die Schönste auf dem Ball sein.«
Als ob mir daran gelegen wäre , dachte Snowflake und verzog unwillig das Gesicht.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde sie schließlich mit einer gnädigen Miene seitens Madame Fleurs entlassen und stieg erleichtert von dem Podest. Kaum hatte man ihr aus dem Ballkleid herausgeholfen, schlüpfte sie auch schon in ihr Alltagskleid aus dunkelblauem Wollstoff, dessen Rocksaum mit schneeflockenbestickten Borten verziert war, und wollte davoneilen. In Madame Fleurs Augen war dieses Kleid bereits zu abgetragen für eine Prinzessin, doch Snowflake liebte es und wollte sich nicht davon trennen.
»Wir sehen uns morgen Nachmittag noch einmal zur selben Stunde«, bestimmte die Schneiderin streng. »Und verspätet Euch nicht.«
»Natürlich, Madame Fleur«, versprach Snowflake ein wenig halbherzig und knickste flüchtig, um einen artigen Eindruck zu hinterlassen.
Fluchtartig verließ sie das königliche Ankleidezimmer. Im Laufen schloss sie noch hastig die kleinen weißen Knöpfe an den langen Ärmeln ihres Kleides. Auf dem Weg zum Festsaal machte Snowflake einen Abstecher zur Küche, um sich etwas zu essen zu besorgen. Unten im Küchentrakt der Burg herrschte bereits geschäftiges Treiben, als sie eintrat. So kurz vor dem jährlichen Winterfest ging es hier stets zu wie im Taubenschlag. Die Vorbereitungen für das Fest waren bereits in vollem Gange. Kuchen, Hefekringel, Zimtschnecken und anderes Gebäck sowie die unterschiedlichsten kunstvollen Torten wurden hergestellt. Es duftete herrlich und Snowflakes Magen knurrte vor Hunger. Seit einem mageren Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen, wie ihr jetzt einfiel. Kein Wunder, dass ihr beim Anblick dieser Köstlichkeiten förmlich das Wasser im Mund zusammenlief.
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