Ihr ganzes Leben lang hörte sie nichts anderes, als dass sie diejenige sein würde, die ihre Tante, die böse Schneekönigin, aus ihrem Gefängnis befreien und damit Leid und Tod über die Menschen von Winter bringen würde. Deshalb vergrub sie sich in Büchern, suchte Trost in wissenschaftlichen Themen, denn es half ihr, nicht über die Magie nachzudenken, die in ihrem Inneren schlummerte. An manchen Tagen schien ihr Körper geradezu vor aufgestauter kristallklarer und reiner Magie zu vibrieren, die sie nicht freilassen durfte, so wie es die Bewohner von Winter ganz selbstverständlich taten. Niemand durfte hinter ihr Geheimnis kommen und gleichzeitig durfte sie die Menschen nicht in Gefahr bringen.
»Vielleicht musst du ihm einfach die Chance geben, dich besser kennenzulernen«, meinte Juna. »Wer weiß, womöglich findest du ihn ja ganz nett, wenn du ihn erst einmal näher kennst, und hast Gefallen an seiner Gesellschaft.«
»Das bezweifle ich. Sehr sogar.«
Himmel, konnte dieser Tag noch schrecklicher werden? Eine bevorstehende Verlobung war schlimm. Wirklich schlimm. Besonders weil sie diese Nachricht so ohne Vorwarnung ereilt hatte. In ihr Entsetzen über diese Botschaft mischte sich Enttäuschung. Weshalb hatte ihre Patin ihr nichts von diesen Plänen erzählt? Immerhin handelte es sich hier um ihr Leben und ihre Zukunft. Warum musste sie es von Juna erfahren? Nicht, dass sie es nicht zu schätzen wüsste, es überhaupt zu erfahren. Und ausgerechnet Prinz Ayris hatte die Regentin für sie ausgewählt? Das war wie ein Schlag ins Gesicht für Snowflake, die immer geglaubt hatte, einmal aus Liebe und nicht aus politischen Gründen zu heiraten.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Juna. »Wahrscheinlich hätte ich nichts sagen sollen. Ich dachte, du würdest dich vielleicht über diese Neuigkeit freuen. Ich weiß, dass ich es an deiner Stelle täte.«
»Dann heirate du ihn doch«, meinte Snowflake und bereute es im selben Moment. »Entschuldige bitte, es war nicht so gemeint. Es war dumm von mir, so etwas zu sagen. Ich wollte dich nicht verletzen.«
Sofort plagte Snowflake ein schlechtes Gewissen. Sie hätte nicht so harsch zu Juna sein sollen.
»Ich dachte, es wäre wichtig für dich, was Regentin Theodora mit einem ihrer Berater besprochen hat. Seit unseren Kindertagen bist du meine Gefährtin in allen Lebenslagen, und ich wollte dir helfen. Doch anscheinend bin ich für dich nichts anderes als eine kleine Dienerin, die an Türen lauscht und von einer Hochzeit mit einem Prinzen träumt. Ich hätte den Mund halten sollen.« Juna presste missmutig die Lippen zusammen.
»Nein, es ist gut, dass du es mir gesagt hast«, erwiderte Snowflake versöhnlich. »So bin ich wenigstens vorgewarnt. Du weißt, dass ich Überraschungen nicht leiden kann. Besser, ich erfahre es jetzt als beim Winterfest.«
»Ach, bin ich dir also doch nützlich?«, fragte Juna schmollend.
»Du bist meine beste Freundin. Ich bitte dich um Verzeihung.«
»Ich muss gehen«, sagte Juna unvermittelt.
»Sehen wir uns später zum Abendessen?«, fragte Snowflake und hoffte darauf, dass sie ihr bis dahin nicht mehr länger böse war.
»Sicher.«
Damit eilte Juna auch schon davon und ließ eine verwirrte Snowflake zurück.
Kapitel 2
Am Morgen des Winterfestes war Snowflake schon früh auf den Beinen. Sie stand am Fenster ihres Zimmers, einen Schal aus dicker Wolle fest um die Schultern geschlungen, um sich vor der morgendlichen Kälte zu schützen. Da sich ihr Gemach hoch oben im Turm der königlichen Burg befand, erlaubte es ihr einen Blick über das weite, schneebedeckte Land, das ruhig und friedlich unter einer dicken weißen Decke lag. Ihr Blick wanderte über die kleinen Dörfer, die sie von hier oben sehen konnte, wenn der Morgen so klar war wie an diesem Tag. Von den Kaminen stieg Rauch auf und zeigte ihr, dass sie nicht die Einzige war, die früh aus dem Bett gefunden hatte.
Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, die gerade über den Horizont stieg und den Himmel in kräftiges Rot und Orange färbte, fielen ihr ins Gesicht und belebten ihre Sinne. Eisblumen verzierten den äußeren Rand ihres Fensters mit wunderschönen Mustern, und sie nahm sich einen Moment Zeit, sie zu betrachten. Sie liebte dieses Land und seine Menschen. Den winterlichen Zauber, der stets über allem lag. Auch wenn die meiste Zeit Schnee fiel und Kälte herrschte, so waren die Herzen der Menschen mit Wärme erfüllt, und sie liebten das Lachen, das Leben, das Schlittschuhlaufen. Die Hütten und Häuser der Menschen waren mit liebevollen Bildern bemalt. Meist waren es tanzende Schneeflocken, die durch mit Magie angereicherte Farbe glitzerten, auch wenn die Sonne sie an einem trüben Tag nicht beschien. Die Dächer waren mit Schindeln aus blauem Ton bedeckt, den man in den südlichen Gebirgen von Winter finden konnte und den es nur in diesem Königreich gab. Nach einer verschneiten Nacht wurden morgens die Wege von den Bewohnern geräumt und man nutzte die Gelegenheit, um Neuigkeiten und Tratsch auszutauschen. Abends saßen sie an wärmenden Feuern beisammen, erzählten sich Geschichten von vergangenen Zeiten und magischen Wesen, sangen Lieder oder fertigten Dinge für den Alltag, seien sie nun nützlich oder schmückend. Es war ein friedvolles Leben, trotz allem, was Schnee und Eis den Menschen manchmal abverlangte.
Lange verharrte Snowflake nicht am Fenster, denn es war reichlich kalt an diesem Morgen, und so beschloss sie, ihr Tagwerk zu beginnen, bevor ihr noch kälter wurde.
Die zwei Tage bis zum Winterfest waren wie im Fluge vergangen, sodass Snowflake nicht wirklich zum Nachdenken kam. Sie fand kaum die Zeit, sich über die winterlichen Sonnentage zu freuen, die einen wahrhaftigen Zauber über das ganze Land legten. Sie schaffte es nicht einmal, den Streit mit Juna, der ihr wie Blei auf der Seele lastete, aus der Welt zu schaffen. Zumal ihre Freundin ihr aus dem Weg zu gehen schien.
Sie stand frühmorgens auf, hetzte den ganzen Tag von einem auferlegten Termin zum nächsten und fiel abends erschöpft ins Bett, wo sie sogleich einschlief. Selbst wenn sich die Gelegenheit für ein Gespräch mit ihrer Patin ergeben hätte, war sich Snowflake nicht sicher, ob die Regentin tatsächlich offen mit ihr über ihre Pläne gesprochen hätte und ob Snowflake selbst nicht viel zu müde für eine Unterhaltung dieser Art gewesen wäre.
In den wenigen Momenten, in denen ihre Gedanken nicht um das Winterfest und die Vorbereitungen dafür kreisten, bemühte sie sich, nicht darüber nachzudenken, welche Zukunft sie womöglich erwartete. Würde sie es tun, wäre sie nicht mehr in der Lage, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, so viel stand fest. An Ayris wollte sie gar nicht denken. Ihn würde sie ohnehin früher sehen, als ihr lieb war.
Am Nachmittag des Tages, an dem das Winterfest stattfinden sollte, war es so weit: Prinz Ayris aus dem Königreich Sommer reiste mit seinem Gefolge an. Hoch zu Ross, gekleidet in dicke Pelze, ritten sie in den Burghof ein. Die Gesandtschaft aus Sommer wurde von einem Trupp Krieger aus Winter begleitet, die den Schluss des Zuges bildeten und weitaus beeindruckender als die Soldaten aus Sommer wirkten. Man sah ihnen an, wie wenig sie von den Sommern hielten. Seit jeher gab es Zwistigkeiten zwischen den Soldaten beider Königreiche, die ihre Konkurrenz gelegentlich bei Wettkämpfen austrugen.
Snowflake schaute dem Treiben vom Fenster ihres Zimmers aus zu. Ihr war klar, dass sie irgendwann würde hinuntergehen müssen, um den Prinzen gebührend zu begrüßen, so wie es die Etikette von ihr verlangte. Es war eine Pflicht, die es zu erfüllen galt, unabhängig von ihren Empfindungen ihm gegenüber. Sie hoffte, sie wäre in der Lage, es noch bis zum Abend hinauszuzögern und ihm erst auf dem Fest zu begegnen. So lange würde sie einfach in ihrem Zimmer bleiben oder sich irgendwo ein Plätzchen suchen, wo sie sich verstecken konnte. Würde ihre Patin ihre Anwesenheit früher für notwendig befinden, dann würde sie nach ihr schicken.
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