»Nein«, entgegnete das Backfischchen kleinlaut.
»Ich ja auch nicht, – aber wir haben durch sie nur Schimpf und Schande.«
»Ich habe ihr gestern mein Mathematikheft borgen müssen, alles hat sie abgeschrieben«, sagte Bärbel.
»Eigentlich geht das zu weit.«
»Sei nur still, Edith, der Reif ist eben auf uns Blaublümelein gefallen. Wir waren dumm, sie zu unserer Vorsitzenden zu machen.«
Am übernächsten Tage trat ein Ereignis in Bärbels Leben, das dem Backfisch für lange Zeit das fröhliche Lachen nahm.
Im Hinterhause des Nebengebäudes hatte sich eine Mutter mit drei kleinen Kindern den Tod gegeben. Sie hatte die Gashähne aufgedreht, man hatte erst am frühen Morgen die Frau gefunden, und alle Wiederbelebungsversuche waren umsonst gewesen. Bärbel war ahnungslos gerade dazu gekommen, als man auf einer Bahre die Toten in den Sanitätswagen lud.
Ein wildes Entsetzen erfüllte das junge Mädchen. Noch niemals war Bärbel Zeuge einer solchen Tragödie geworden.
Wohl wußte sie, daß es arme Menschen in Hülle und Fülle gab, wohl hatte sie Bittende an vielen Straßenecken stehen sehen, aber meistens war das junge Mädchen achtlos an diesen vorübergeschritten, kein Gedanke war zu jenen Unglücklichen hingeflogen, die verzweifelt eine milde Gabe erflehten, um den bitteren Hunger zu stillen.
So stand denn Bärbel Wagner noch immer in dem Menschenhaufen und hörte von allen Seiten die Mutmaßungen, die Behauptungen.
»Sie ist richtiggehend verhungert«, sagte eine Frau, »niemand hat sich um sie gekümmert. Die Kinder sollen schon lange nach Brot geschrien haben. – Die arme Frau muß ja schließlich zur Verzweiflung getrieben worden sein.«
»Sie hat einen Zettel hinterlassen. Seit acht Tagen hat sie nichts mehr im Hause gehabt. Zuletzt hat sie für die Kinder einige Semmeln gestohlen, dabei hat man sie erwischt.«
Nachtdunkle Schatten legten sich über Bärbels Blauaugen. Was sie hier hörte, war so grauenvoll, daß sie keinen anderen Gedanken mehr hatte als bitterste Selbstvorwürfe. Vor etwa vierzehn Tagen war ihr das goldlockige Mädchen begegnet. Oh, sie kannte das Kind genau. Noch sah sie die dunklen, fragenden Augen, und Bärbel hatte gerade damals an einem Stück Schokolade geknabbert und war an der Kleinen vorübergegangen.
Ach, wie leid ihr das jetzt tat!
Es würgte ihr im Halse. Sie hätte am liebsten laut aufgeschrien, um sich ein wenig Luft zu machen. Aber mit verhaltenem Atem lauschte sie auf die Worte, die um sie herumschwirrten.
»Die alte Kahler wird es wohl bald nachmachen, die hungert auch und hat einstmals so gute Tage gesehen.«
Nein, nein, sie konnte nichts weiter hören, es ging über ihre Kraft. Mit brennenden Augen starrte sie dem davonfahrenden Wagen nach.
Eine Mutter und drei Kinder, und sie saß alltäglich am vollbesetzten Tische und hatte erst gestern geäußert: »Ach, Großchen, immer Rindfleisch, ich kann es schon gar nicht mehr sehen.«
Wenn die unglückliche Frau mit ihren drei Kindern gestern das verschmähte Rindfleisch gehabt hätte, die Gashähne wären gewiß nicht geöffnet worden.
Bis ins Innerste aufgewühlt schlich sich Goldköpfchen davon. Sie mußte ja zur Schule gehen. Der Unterricht hatte wohl längst begonnen. Unwillkürlich preßte Bärbel die schwarze Büchermappe fester unter den Arm. Da drinnen lagen drei mit Wurst belegte Brötchen. Schon der Gedanke daran ließ Bärbel zusammenschauern. Drei Brötchen, für jedes der toten Kinder eins. Wie oft brachte sie eines oder gar zwei davon wieder heim, weil ihr die darauf liegende Wurst nicht mundete.
Die Augen standen ihr voller Tränen, als sie sich dem Schulhause näherte. Ihr entgegen humpelte ein alter Mann. Aufgewühlt, wie Bärbel war, griff sie in die Büchertasche und hielt dem Alten mit überquellenden Augen die drei Brötchen hin.
»Nehmen Sie das. Sie haben sicherlich Hunger.«
Der Alte lachte das junge Mädchen an. »Hunger – nee, Fräulein.«
»Nehmen Sie, nehmen Sie nur«, sagte Bärbel mit erstickter Stimme und stürmte an dem Verdutzten vorüber, hinein in den Schulhof.
Der alte Mann sah ihr nach, wickelte kopfschüttelnd die Brötchen aus und murmelte: »Nun, dann nehme ich sie eben mit heim. – Es gibt doch merkwürdige Menschen.«
Die Geschichtsstunde hatte bereits begonnen, als Bärbel hastig das Klassenzimmer betrat. Sie sah gänzlich verstört aus, in ihren Augen standen noch immer die Tränen.
»Bitte um Entschuldigung, Herr Doktor, ich – ich habe mich verspätet.«
Doktor Hering nickte nur dazu. Er hatte einen schnellen Blick auf das junge Mädchen geworfen und sofort gesehen, daß ihm etwas Unangenehmes zugestoßen sein mußte, denn die stets so übermütig blitzenden Augen waren heute feucht und verschleiert.
Bärbel ließ sich auf ihren Platz nieder und versank wieder in Brüten. Das schreckliche Bild wollte nicht von ihrer Seele weichen. Sie mußte heute mit Großchen reden, denn nicht wieder durfte so etwas Entsetzliches geschehen. Sie würde nicht zum zweiten Male über Rindfleisch klagen; dankbar wollte sie alles entgegennehmen, was man ihr bot.
»Nun, Bärbel?«
Die Angeredete fuhr erschreckt auf. Man fragte sie, aber sie hatte keine Ahnung, was Doktor Rollmops von ihr wollte.
Rollmops! – Wie glücklich wären die drei Kinder gewesen, wenn sie einen Rollmops gehabt hätten. – Nun lagen sie bleich und kalt auf der Bahre.
»Willst du mir nicht antworten, Bärbel?«
»Entschuldigen Sie, Herr Doktor, ich habe die Frage nicht gehört.«
»Du bist heute sehr zerstreut«, tönte es streng und grollend vom Katheder herunter, »ich wiederhole: die Not der eingeschlossenen Römer war aufs äußerste gestiegen, die Lebensmittel wurden immer knapper – fahre fort, Bärbel.«
Die Lippen des jungen Mädchens begannen zu zittern. Der einzige Satz aus dem grauen Altertum genügte, um Bärbels Fassung erneut zusammenbrechen zu lassen. Not, überall Not, wohin man hörte.
Statt einer Antwort warf Bärbel die Arme auf die Tischplatte und begann so jammervoll zu weinen, daß Doktor Hering erschreckt aufsprang und sich hastig dem jungen Mädchen näherte.
»Bärbel, – warum weinst du?«
»Über die Not, die furchtbare Not!«
Doktor Hering war einen Augenblick starr. Er, der den jungen Mädchen gegenüber so unsicher war, wußte in diesem Augenblick nicht, was er mit diesem Ausruf anfangen sollte. Es war doch undenkbar, daß eine Fünfzehnjährige über die Not, die vor mehr als einem Jahrtausend in Rom geherrscht hatte, so bitterlich weinte. War das eine gutgespielte Komödie?
Nein. – Er sah den zuckenden und bebenden Körper, hörte das leidenschaftliche Weinen, wurde aber nicht klug daraus.
Einige Mitschülerinnen begannen leise zu lachen, dann sprang ganz plötzlich ein lautes Gelächter auf, das schnitt Bärbel noch tiefer ins Herz. Man lachte, während eine unglückliche Frau mit ihren drei Kindern tot davongefahren wurde.
Sie hielt sich beide Ohren zu, sie konnte nicht sprechen, sie hätte nur immer schreien mögen vor innerer Qual. Wenn sie die Augen schloß, sah sie immer wieder das grauenvolle Bild.
Doktor Hering war ratlos. – Er strich zaghaft Bärbel mehrfach über das goldblonde Haar und sagte unsicher: »Beruhige dich …«
Aber die anderen lachten und lachten. Da sprang Bärbel plötzlich auf, lief zur Tür hinaus und verbarg sich hinter einem der dicken Pfeiler. Sie legte den heißen Kopf an die kalten Steine, und erst nach Minuten wurde sie ganz allmählich ein wenig ruhiger.
In der Pause wurde Bärbel abermals zum Direktor gerufen.
»Ich weiß nicht, Bärbel, was es in letzter Zeit mit dir für eine Bewandtnis hat. Herr Doktor Hering meldet mir heute dein eigenartiges Verhalten. Ich sehe dich verweint, schütte mir dein Herz aus, mein Kind.«
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