»Die Unterschrift …« stammelte Bärbel.
Herta neigte sich über die Bank, eine Stimme zischte an ihrem Ohr: »Elend und unglücklich soll derjenige bis an sein Lebensende sein, der eines der Mitglieder in der Not verrät.«
Bärbel wollte aufbrausen. Das ging zu weit! Sie verpetzte zwar niemals ihre Mitschülerinnen, aber es kränkte sie, daß man ihr derartige Ungezogenheiten zutraute. Soweit durfte der Eid nicht gehen, daß man sich hinter ihm verbarg, wenn man irgendwelche Frechheiten plante.
Aber Bärbel war sich nicht ganz sicher. Sie hatte nun einmal geschworen und mußte still sein. Gesenkten Hauptes ließ sie die entrüsteten Worte des Ordinarius über sich ergehen, der ihr sagte, daß er Bärbel beim Direktor melden werde.
Die Tränen stiegen dem jungen Mädchen in die Augen. Bärbel hatte sich fest vorgenommen, gerade im letzten Vierteljahr keinen Anlaß zu einer schlechten Note zu geben. Nun würde sicherlich solch ein Vermerk ihr Zeugnis zieren.
Niedergeschlagen setzte sie sich wieder hin; aber die Abneigung, die sie schon lange gegen Herta Brodowin im Herzen trug, wurde in dieser Stunde noch größer.
Nach Schluß des Unterrichtes stürzte sie sich auf die Mitschülerin.
»Du bist ein Feigling, Herta – soll ich für dich büßen?«
»Du schwurst den Eid.«
»Damit du Frechheiten begehen kannst?«
Herta zuckte die Schultern. »Du hast geschworen, das genügt.«
»Du hast auch geschworen«, entgegnete Bärbel erbittert, »einer für alle. Unser Klub hat es sich zur Aufgabe gemacht, ehrlich und anständig zu sein. Das steht in Paragraph 7.«
»Ist in diesem Falle nicht anwendbar. Ich war in Not, du mußtest mich heraushauen.«
So schwieg Bärbel denn auch, als sie vor dem strengen Direktor stand. Seine ernsten, aber immerhin noch gütigen Worte taten ihr sehr weh. Sie war zwar mehrmals in Versuchung, alles zu sagen, aber dieser schreckliche Eid durfte nicht gebrochen werden.
Als man sie entließ, trat Edith an sie heran.
»Tröste dich mit unserem Freund Heinrich Heine«, sagte sie, »er sagt so wundervoll: es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht, er fiel auf die zarten Blaublümelein.«
Bärbel wischte sich die Tränen aus den Augen.
»Ja, Edith, und den Vers werde ich über alle Statuten in die linke Ecke schreiben. Ich muß mich eben abfinden, ich habe ja geschworen.«
An diesem Tage kam Bärbel sehr niedergeschlagen heim. Frau Lindberg merkte sogleich, daß hier etwas nicht ganz in Ordnung war.
»Frage nicht, liebes Großchen, ich habe heute eine schlechte Note im Betragen erhalten. Ich habe unseren Ordinarius gezeichnet und – ach, ich muß ja schweigen. – Großchen, ein Eid ist etwas Furchtbares.«
Es war Frau Lindberg trotz größter Mühe ganz unmöglich, hier klar zu sehen. Sorgenvoll legte sich die alte Dame an diesem Abend zu Bett.
Um so glücklicher war sie, als tags darauf Bärbel mit hochroten Wangen heimkam und schon im Flur jubelnd nach Großchen rief.
»Wie süß, himmlisch, – Großchen, hast du nicht ein altes Bett?«
»Was ist denn los?«
Unter dem Mantel holte Bärbel eine Katze hervor.
»Ich habe sie gefunden, sie hat kein Elternhaus, sie war so furchtbar verhungert, da habe ich sie mitgenommen. – Höre doch, Großchen, wie sie weint. Wir werden sie aufnehmen, – ach, ich bin ja so glücklich, ein liebes Kätzchen zu haben!«
Nur widerstrebend fügte sich Frau Lindberg darein, die Katze in der Wohnung zu behalten, sie sah sofort, daß sich das Tier in wenigen Tagen vermehren würde. Sie beschloß, sogleich ein Inserat aufzugeben; als aber Bärbel erzählte, daß es die Katze ganz verhungert gefunden habe, wurde es Frau Lindberg klar, daß man sich des alten Tieres entledigen wollte.
»Wir können doch unmöglich mehrere Katzen in der Wohnung haben, Bärbel.«
»Es wäre einfach himmlisch, ich hätte doch dann einen Lebenszweck, Großchen, ich will für die Tierchen schon sorgen.«
Bärbel bereitete der Katze ein prächtiges Lager; Frau Lindberg mußte bremsen, damit das junge Mädchen nicht wertvolle Decken und Kissen zusammentrug.
Drei Tage später jubelte Bärbel über sechs kleine graue Kätzchen, die neben der Mutter in dem Körbchen lagen. Sie duldete es nicht, daß nur ein einziges der jungen Tierchen getötet wurde. Sie flehte die Großmutter an, und Frau Lindberg gab schließlich widerstrebend nach.
»Bedenke doch, Großchen, wie sich das lohnt. Wir können die kleinen Kätzchen später als Geschenke weitergeben. Das niedlichste nehme ich nach Hause mit. Oh, wie werden sich Kuno und Martin darüber freuen.«
So blieben die sieben Katzen im Hause der unglücklichen Großmutter. Bärbel sorgte geradezu rührend für die Tiere. Sie verzichtete sogar am Sonntag auf die Schlagsahne, legte das Geld in Milch an, die die alte Katze über die gewohnte Portion hinaus bekam.
Trotz dieser Freude, die Bärbel an ihren sieben Katzen hatte, lag doch seit kurzem ein leichter Schleier über den blauen Augen. Irgend etwas stimmte nicht, aber Frau Lindberg konnte das Rätsel nicht lösen.
Bärbel litt schwer an den Statuten des neuen Klubs. Jetzt erst zeigte sich der schlechte Charakter Hertas. Sie nutzte die Schweigepflicht der Mitschülerinnen auf das gröblichste aus. Sie hatte sogar Freude daran, ihre Mitschülerinnen nach jeder Richtung hin zu belasten, sie wusch sich stets rein, während die anderen für ihre Bosheiten gestraft wurden.
Bei den Zusammenkünften in der Konditorei kam es zu stürmischen Szenen. Und als nun Herta sogar erklärte, daß es Pflicht sei, sich gegen die Autorität der Eltern zu wehren, daß man sich heute jeglichen Zwang von dieser Seite her verbieten müsse, brauste Bärbel auf.
»Seid doch froh, daß jemand da ist, der euch sagen kann, was gut und schlecht ist. Ich wollte, ich hätte nie geschworen.«
»Häng’ du nur weiter an der Schürze deiner alten Großmutter«, höhnte Herta, »hast du denn Freiheiten? Kannst du dir dein Leben einrichten, wie du willst? Dein Vater ist ein vermögender Mann, was gibt er dir an Taschengeld? Wir müssen mehr Geld in die Finger bekommen, – wir müssen fordern, daß wir die Mittel haben, unsere eigenen Wege zu gehen.«
In diesem hetzerischen Tone ging es weiter. Herta wurde zwar häufig stürmisch unterbrochen, aber sie wußte immer wieder die Oberhand zu gewinnen.
In Bärbel stürmte es. Nur ganz selten fiel eines dieser Worte in ihr Herz. Das meiste, was Herta sagte, war abscheulich. Wie schade, daß man nach dieser Richtung hin nicht irgend jemand befragen konnte. Aber sie mußte ja schweigen, der gegebene Eid band die Lippen.
Den meisten Widerspruch fand Herta in einer neuen Anordnung. Die Mitglieder des Klubs sollten dadurch gezwungen werden, an jedem Monatsersten zwei Mark Beitrag zu zahlen. Herta wollte diesen Betrag für wichtige Neuanschaffungen verwalten und ausgeben.
»Das ist viel zu viel Geld«, erklärte Bärbel, »wo soll ich denn zwei Mark hernehmen? Außerdem brauchen wir kein Geld. Es kostet genug, wenn wir hier in jeder Woche Kaffee trinken und Kuchen essen.«
»Es muß aber sein«, erklärte Herta, »ihr müßt eben Opfer für den Klub bringen, ihr müßt euch in Selbstlosigkeit üben.«
Sie sprach so überzeugend, daß schließlich eine nach der anderen beipflichtete. Erneut wurde beschlossen, daß jedes Mitglied am nächsten Freitag zwei Mark mitzubringen habe, widrigenfalls es mit Schimpf und Schande aus dem Klub ausgestoßen würde.
»Hütet euch«, rief Herta, »unserer Sache untreu zu werden, ihr würdet kein Glück mehr im Leben haben, das Unheil heftet sich an eure Fersen. – Also, vergeßt die zwei Mark nicht!«
Auf dem Heimwege besprachen die einzelnen jungen Mädchen gruppenweise Hertas neue Forderungen.
»Ich glaube, sie will das Geld für sich haben«, meinte Edith. »Hast du den Mut, auszutreten, Bärbel?«
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