Goldköpfchen schloß die Augen. – Nun war es so weit. Nun würde er wohl gleich vor ihr niedersinken und ihren Namen noch einmal so süß hinhauchen, wie er es eben getan hatte. Ja, das war die Liebe, die große, echte Liebe!
»Verzeihen Sie, Fräulein Wagner«, sagte er plötzlich gefaßt, »aber …«
»Es macht nichts«, flüsterte Bärbel.
»Sie müssen nämlich wissen, ich …«
»Ich weiß alles«, sagte Bärbel stockend.
»Nein, Fräulein Wagner, noch niemand weiß es, denn wir haben uns erst gestern abend verlobt. – Sie heißt nämlich auch Bärbel und hat genau solch goldene Haare wie Sie.«
Eine Sekunde lang hatte das junge Mädchen, ein Gefühl, als stürze ihm kaltes Wasser über den Rücken. Dann griff Bärbel so temperamentvoll in die Saiten, daß zwei davon rissen.
Ein Märchen von Grimm fiel ihr ein.
»Es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen.«
»Darum bin ich auch heute ein wenig zerstreut, Fräulein Wagner. – Sie müssen entschuldigen. Aber daß Sie nun auch gerade Bärbel heißen.«
Das also war die große Liebe, das war das ersehnte Erlebnis. Wozu hatte sie denn die guten Schuhe angezogen und das Sonntagskleid? Er liebte eine andere.
»Wenn Sie nicht in Stimmung sind«, sagte Bärbel ziemlich mißmutig, »dann möchte ich heute – ich bin nämlich auch nicht in Stimmung. Ich komme lieber am Montag wieder.«
»Aber wir könnten deswegen doch …«
»Nein, nein«, sagte sie unwillig, indem sie sich den Hut auf die Locken drückte, »schwärmen Sie weiter von Ihrem Bärbel.«
Als sie unten im Hausflur stand, kam ihr der Gedanke, nun auch die Laute an der Eingangssäule zu zerschellen.
»Weh dir, verruchter Mörder, du Fluch des Lautentums, dahin ist all mein Hoffen!«
Nein, – wozu sollte sie die schöne Laute zerschlagen? Sie würde sich diese Liebe aus dem Herzen reißen und auch diese Enttäuschung überwinden. – Vielleicht kam doch noch einmal das große Erlebnis zu ihr.
Damit war der semmelblonde Merkur mit den Glotzaugen für Bärbel erledigt.
Auch in den nächsten Tagen gab es gar nichts zum Erleben. Ein Tag ging wie der andere dahin, und Bärbel klagte allabendlich dem Großchen, daß es noch immer nichts für die Unsterblichkeit getan habe. Jedesmal, wenn sie in die Zeitung schaute, wenn irgendein Name Erwähnung fand, tippte sie mit dem Finger darauf und sagte seufzend:
»Wenn ich doch auch einmal durch die Druckerschwärze ginge!«
Es war ihr ganz einerlei, ob der Name lobend oder tadelnd erwähnt wurde. Der Dieb, der vor den Schranken des Gerichtes stand, erregte ebenso ihr Interesse, wie der Direktor einer Bank, der sich unter eine Ankündigung schrieb.
»Ein Erlebnis zu haben, Großchen, und gedruckt zu werden, welch ein Glück!«
Da kam sie eines Tages mit glühenden Wangen heim.
»Großchen! – In mein Leben ist etwas Neues getreten, – ich werde sehend!«
»Was ist denn schon wieder los, Goldköpfchen?«
»Gabriele hat mich doch zu heute nachmittag eingeladen. Dort gibt es eine spiritistische Sitzung. Gabriele meint, wir können einen Tisch tanzen lassen, und wenn einer in Trance wäre, könnten wir sogar Geister klopfen hören.«
»Fangt ihr auch mit dem Unsinn an, Kinder?«
»Ich habe schon von Hellsehern gelesen, Großchen, und gerade jetzt sagt man, daß das Verbrechen in Pirna durch einen Hellseher aufgeklärt werden soll. – Oh, ich weiß schon, wie wir uns die Geister dienstbar machen. Ich habe dir doch erzählt, daß jetzt so viele in der Schule anonyme Briefe kriegen. – Gabriele meint, wir werden den Geist fragen, wer sie schreibt.«
»Nun, ich denke, die Geister werden sich gar nicht erst zu euch bemühen«, scherzte Frau Lindberg. Sie war in der jetzt folgenden Unterredung eifrig bemüht, die bevorstehende Sitzung des Mystischen zu entkleiden.
Aber für Bärbel war doch diese geplante spiritistische Versammlung etwas ganz Neues. Als man sich bei Gabriele Langen zum Kaffee einfand, schlangen alle anwesenden jungen Mädchen den Kuchen mit denkbar größter Eile herunter, weil man gar nicht schnell genug die Geister herbeizitieren konnte.
Endlich war es so weit. Man ging ins Nebenzimmer, ließ die Rolläden vor die Fenster und zündete nur eine einzige Kerze an.
»Es ist auch ohne Kerze noch hell genug«, meinte Gabriele, »die Sonne läßt sich nicht ganz aussperren. Aber ich denke, wir sind alle so andachtsvoll gestimmt, daß die Geister kommen werden.«
Sie gab darauf die Erklärungen: die Geister klopften, der Tisch würde tanzen, vielleicht sogar bis zur Decke hinauffliegen.
Voller Erwartung saßen die zehn jungen Mädchen um den kleinen Tisch, legten die Hände gespreizt an den Rand der runden Platte, das Schweigen begann.
Bärbel brannte vor Aufregung. Wenn wirklich ein Geist erschien, hatte sie ihr großes Erlebnis. An diesem Geist wollte sie die nächsten Jahre zehren. Wer würde wohl erscheinen? Ach, daß sie sich einen ihrer Freunde aussuchen dürfte!
Man saß und saß, – keines der jungen Mädchen rührte sich, keines gab einen Laut von sich. Bis endlich Gabriele Langen flüsternd sagte:
»Kinder, merkt ihr etwas? Er bewegt sich.«
Richtig! – Da fing der Tisch auch schon zu wackeln an. Er wackelte stärker, neigte sich nach rechts, nach links, da rief Gabriele mit dumpfer Stimme:
»Geist – bist – du – da?«
Der Tisch neigte sich.
»Er ist gekommen«, sagte Gabriele flüsternd.
»Wer denn?« fragte Bärbel neugierig.
»Das werden wir erkunden«, meinte Gabriele.
»Geist – wer bist du? – Gib Antwort auf unsre Frage.«
»Kann der Geist reden?«
»Nein, – paßt nur auf!« Und nun nannte Gabriele der Reihe nach die Buchstaben des Alphabetes. A, B, C, und so fort.
Bärbels Herz klopfte stürmisch. Wenn doch jetzt ihr geliebter Gotenkönig, der schwarzhaarige Teja, in dem Tische säße. Sie schwärmte so furchtbar für diesen unglücklichen Mann. Angstvoll verfolgte sie jedes Neigen des Tisches. Als er bei dem Buchstaben R nur noch ganz leise wackelte, stieß ihn Bärbel in ihrer Begeisterung kräftig weiter, immer noch einmal, immer noch, bis endlich der Buchstabe T erreicht war. Dann hielt sie den Tisch fest.
Nun ging es von vorn los. Wieder wartete Goldköpfchen in angstvoller Spannung, um beim Buchstaben E die Hände fest auf die Platte zu pressen. Schließlich hatte man den Teja herausgefunden, und triumphierend schaute sich Gabriele im Kreise um.
»Der unglückliche Gotenkönig sitzt unter uns, – der letzte seines Volkes. – Was soll er uns künden?«
»Wer die anonymen Briefe in der Schule schreibt«, flüsterte Bärbel.
»Richtig! – Hoher Gotenkönig, sage es uns, wer unsere Mitschülerinnen in so gemeiner Weise beschimpft? Sprich, künde aus dem Jenseits, wer es ist!«
Jetzt half Bärbel nicht mehr nach. Sie war selbst viel zu gespannt, von wem alle diese Niederträchtigkeiten kamen. Sie selbst war bisher mit solch einem häßlichen Briefe verschont geblieben, aber Edith, Valeska, Trude und noch viele andere hatten derartige Schreiben erhalten.
Gabriele begann wieder die Buchstaben aufzuzählen. Der Tisch wackelte und wackelte, bis er endlich bei W halt machte.
»Wanda?« ging es im Kreise umher? Wanda war eine sehr unbeliebte Obersekundanerin.
Richtig, bei A hielt der Tisch zum zweiten Male an.
Dann wackelte er weiter. Man buchstabierte Wag, dann ging es weiter »Wagn«, auch der Vokal E kam noch. Da sprang Bärbel auf.
»Du bist wohl verrückt? Ich habe diese Briefe nicht geschrieben!« Laut schlug sie mit der Faust auf die Tischplatte.
Die Umsitzenden schauten verlegen und mißtrauisch auf Bärbel.
»Das habt ihr gemacht«, rief Bärbel, »ihr habt den Tisch hin und her gedrückt, um mich zu ärgern.«
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