Bärbel strahlte. Sie liebte die Ostsee geradezu leidenschaftlich, außerdem freute sie sich auf das Neue, das sich ihr dort bieten würde. Sie war doch jetzt mit ihren sechzehn Jahren eine junge Dame und würde wahrscheinlich mit den Eltern zu den Tanzabenden gehen, sie würde auch sonst sicherlich vieles erleben. Oh, es würde herrlich werden!
Bruder Joachim hatte sein Examen als Diplom-Ingenieur zur Zufriedenheit bestanden. Zwar hatte er nicht so glänzend abgeschnitten wie Harald Wendelin, der das Examen mit Auszeichnung gemacht hatte. Es war daher kein Wunder, daß der junge Diplom-Ingenieur sofort eine Stellung in einem großen Unternehmen bekam.
Bärbel hatte einen Luftsprung gemacht, als sie erfuhr, daß die Firma nur eine halbe Stunde von Dresden entfernt ihre riesigen Anlagen hatte. Es würde also möglich sein, daß sie in der nächsten Zeit öfters mit Herrn Wendelin zusammentraf, denn er würde sicherlich zu Großchen kommen. Dann konnte man gemeinsam allerlei tolle Streiche unternehmen.
Als sie bei den tollen Streichen angelangt war, zog sie die Nase kraus. Mit Harald Wendelin ließ sich eigentlich keine Dummheit machen. Er erschien ihr stets wie ein Vater, so ernst, so gemessen. Aber vielleicht gelang es ihr doch, ihn dazu zu bringen. Großchen hatte doch immer gesagt: zur Jugend gehöre Fröhlichkeit, Lachen und Singen. Warum sollte sie das dem ernsten Harald Wendelin nicht beibringen können!
Auch Bruder Joachim war nicht mit an die Ostsee gereist. Er hatte zur Belohnung für das bestandene Examen eine größere Summe Geldes vom Vater erhalten und wanderte vergnügt durch die Alpen, die er bis jetzt noch nicht kannte.
So war nun Frau Wagner mit Bärbel und den Zwillingen vorausgefahren und hatte in einem netten Hause bei dem Uhrmacher und Goldschmied Zapp Wohnung genommen.
Da man mitten in die Hochsaison kam, wimmelte es von Badegästen. Welch ein lustiges Leben herrschte am Strande.
Man krabbelte im Sande und baute Burgen, badete, lachte und tollte in der kühlen Flut, um dann scharenweise zu den Konzerten zu gehen, hin und her zu promenieren und – Bekanntschaften zu machen.
Es wurde Bärbel heiß vor Erregung. Zum ersten Male in ihrem Leben durfte sie die junge Dame spielen, durfte sich nach eigenem Ermessen erfreuen, baden, Burgen bauen und auch Bekanntschaften anknüpfen, genau so wie alle anderen jungen Damen, die sie hier erblickte.
An den Läden blieb sie voller Bewunderung stehen. Was gab es hier für herrliche Sachen! Noch viel schönere als in Dresden. Sofort erwachte in dem jungen Mädchen das glühende Verlangen, eine der schönen, bunten Ketten, einen neuen Badeanzug, einen grellbunten Bademantel und andere Herrlichkeiten zu besitzen.
Es verging daher kein Tag, an dem das junge Mädchen nicht leicht schmollend zur Mutter kam.
»Sie sind alle viel schöner als ich, liebe Mutti. Wenn ich mit meinem ollen weißen Bademantel am Strande liege, sehe ich aus wie ein Bettelweib. – Die meisten haben so schöne Ketten aus großen blauen oder roten Perlen. – Komm doch mal mit, liebe Mutti. Auf der Brücke ist ein Laden. Dort bekommt man schon für fünf Mark solch eine Kette.«
»Du brauchst keine solche Kette, mein liebes Goldköpfchen.«
»Ich habe doch das weiße Kleid mit den blauen Punkten. Wenn ich dazu eine solche blaue Kette hätte, würde ich gewiß auffallen, Mutti.«
»Es wäre entsetzlich, wenn mein Bärbel auffiele.«
»Nein, Mutti, ich fände das gar nicht entsetzlich, es wäre doch wunderschön. Schließlich ist man doch hierher gekommen, um den grauen Alltag zu verscheuchen und der Freude zu leben.«
»Hast du denn nicht Freude genug, mein Kind?«
Ein anderes Mal wieder kam sie mit der Frage, ob man wirklich schon nach vier Wochen heimreisen wolle. Ihre Bekannten vom Strande blieben alle die ganzen großen Ferien hier.
»Da wollen wir doch auch fünf Wochen bleiben, liebe Mutti. Warum sollen wir denn eher heim als die anderen?«
»Bärbel, Bärbel, sei zufrieden, daß du vier Wochen an der See sein kannst. Es gibt so viele, die sich mit ein paar freien Tagen begnügen müssen.«
»Kaufst du mir dann aber die Kette? Morgen ist doch Tanzabend, und ich sehe so plundrig aus.«
»Wenn du das meinst, Bärbel, so ist es bester, wir gehen erst gar nicht zu dem Tanzabend.«
Erschrockenen Auges schaute Bärbel die Mutter an.
»Ich meinte es ja nicht so«, meinte sie kleinlaut, »aber die Bekannten vom Strande haben Seidenkleider. Ich glaube, man darf nur in seidenen Kleidern zum Tanzabend kommen.«
»O nein, mein Kind.«
»Auf der Brücke ist ein Laden, Mutti, da gibt es schon seidene Kleider für zwölf Mark.«
»Komm einmal zu mir, mein Kind. – Was ist eigentlich mit dir geschehen, – seit wann bist du mit nichts mehr zufrieden? Der Vati glaubte, auch dir eine große Freude zu bereiten, wenn er uns vier Wochen an die See schickt. Wir wollen ihm dafür doch auch recht dankbar sein.«
»Das sind wir auch«, sagte Goldköpfchen, indem es an der Unterlippe nagte. »Aber – die blaue Kette möchte ich so gern haben.«
»Du bekommst die blaue Kette nicht«, klang es fest und energisch von den Lippen der Mutter.
Eine kleine, trotzige Falte zeigte sich aus der Stirn des jungen Mädchens.
»Im übrigen gehst du jetzt mit den Brüdern zum Strande. Ihr könnt die Burg fertigbauen, ich komme etwas später nach.«
»Der Martin gräbt immer nur Höhlen, weil er den ganzen Tag Indianer spielt.«
»Du gehst sofort mit den Brüdern zum Strand, Bärbel, kein Wort weiter!«
Da wußte Goldköpfchen, daß es keine Widerrede mehr gab. Sie wäre viel lieber ins Nachmittagskonzert gegangen, noch dazu, da man heute zwischen den einzelnen Musikstücken im Freien tanzte. Sie tanzte nun einmal für ihr Leben gern, aber die Mutter duldete es nicht, daß sie jedesmal diese Tanznachmittage besuchte.
So rief sie ziemlich herrisch nach den Brüdern, die begeistert vor ihr hereilten, um recht rasch wieder an den Strand zu kommen und ihre Räuberhöhle fertigzustellen.
»Ich kann schon bis hinter den Bauch in die Höhle hineinkriechen«, plauderte Martin, »und heute graben wir so tief, daß auch noch die Beine reinrutschen.«
Bärbel hörte kaum hin, sie hatte nur Ohren für die Musik, die vom Kurpark herübertönte. Ach, wie glücklich waren doch alle die, die hier tanzen durften; sie aber mußte als Kindermädchen mit an den Strand.
»Wir laufen voran!«
Weg waren die beiden Brüder.
Bärbels Schritte verlangsamten sich mehr und mehr. Schließlich blieb sie an dem Zaune stehen, der den Kurgarten von der Promenade abgrenzte.
Ein herrlicher Boston begann soeben. Es zuckte Bärbel in den Füßen. Die Brüder gruben ja doch nur an ihrer Höhle, sie würden die Schwester nicht vermissen. Die Kurkarte trug sie stets bei sich. Wenn sie nur einen einzigen Tanz auf dem Podium mittanzte, niemand würde es merken.
Noch zögerte sie. Sie wußte genau, daß sie den ausdrücklichen Wünschen der Mutter entgegenhandelte. Aber wenn sie nicht einmal die blaue Kette bekam, wollte sie doch heute wenigstens einmal tanzen.
Es zog sie mit aller Gewalt zu dem Platze hin. Sie reichte dem Kurdiener ihre Karte, sie näherte sich mit Herzklopfen dem Podium.
Da war es ihr, als käme von der Promenade her ein dumpfer Ton. Noch ein zweiter folgte, ein dritter. Bärbel blieb stehen und schaute rückwärts. Sie erblickte zwei Männer, die jeder einen tanzenden Bären vor sich hertrieben. Nach dem klirrenden Ton des Tamburins tanzte Meister Petz täppisch umher.
Ein Bär! – Bärbel stand plötzlich regungslos da. Durch die Straßen Dillstadts war auch einmal ein Bär gegangen. Oh, das war schon lange her. Damals war sie noch ein kleines Schulmädchen gewesen, das gerade nachgesessen hatte.
Das liebliche Mädchenantlitz erglühte. Jener Bär damals war der Anfang von vielen schrecklichen Stunden gewesen. Sie hatte die Mutter belogen, war dann von ihrem Mitschüler Georg Schenk arg bedroht worden. Sie sollte Geld schaffen. Sie hatte die fünfzig Pfennige fortgenommen und das Hausmädchen in schlimmen Verdacht gebracht.
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