»Nein, der Gotenkönig.«
»Quatsch! Meint ihr, der Gotenkönig sitzt in diesem Tisch? Das ist ja alles dummes Zeug! Wenn ihr mir so Gemeines zutraut, komme ich nie wieder zum Kaffee zu einem von euch.«
»Aber, Bärbel«, beschwichtigte Edith, »das glaubt doch keiner von dir.«
»Doch, einer muß es glauben, sonst hätte er den Tisch nicht so lange hin und hergeschoben, bis mein Name daraus wurde. Solch ein Blödsinn, ein Geist soll in einen Holztisch kriechen. Ich pfeife auf den Geist!«
»Er hat sich eben geirrt«, beschwichtigte Gabriele. »Vielleicht gibt es eine zweite Wagner, die die Briefe geschrieben hat.«
»Mich habt ihr damit kränken wollen!«
Man widersprach lebhaft. Man versicherte Bärbel der innigsten Freundschaft. Nur die kleine schelmische Lisa lächelte verstohlen dazu.
Aber Bärbel machte ihrem entrüsteten Herzen unentwegt Luft, schimpfte auf die Geistersitzung, auf Teja, auf allen Aberglauben und auf die Anwesenden.
Währenddessen hatte Lisa ihre Mitschülerin Edith auf die Seite gezogen.
»Ich war es, Edith, ich habe gemerkt, wie Bärbel durchaus den Teja haben wollte, und wie sie den Tisch gewaltsam hin und her schob. Da habe ich auch etwas nachgeholfen.«
»Pfui, Lisa, das finde ich gemein!«
»Es war doch nur ein Spaß.«
Frau Langen, die den Tumult im Zimmer hörte, kam schließlich und schlichtete den Streit. Auch sie wußte der Geistersitzung einen so humoristischen Anstrich zu geben, daß Lisa endlich freimütig gestand, daß sie sich den kleinen Spaß erlaubt habe. Nun gab auch Goldköpfchen zu, daß es durchaus den Teja haben wollte und tatsächlich geglaubt habe, man könne dadurch den Geist beeinflussen, hier zu erscheinen.
Bei einer guten Ananasbowle wurde der Frieden zwischen den jungen Mädchen wieder hergestellt. Schließlich tranken alle auf den Gotenkönig Teja und stellten die Gläser auf die Platte des verhexten Tisches.
Also war auch das kein Erlebnis geworden. Aufseufzend berichtete Bärbel dem Großchen, daß ihre Hoffnungen abermals fehlgeschlagen wären. Sie müsse sich wohl damit abfinden, ein Dasein des Alltags zu führen, ihr sei es nicht beschieden, auf den Höhen des Lebens zu wandeln.
»Sei glücklich und zufrieden, Bärbel, daß du eine so schöne Jugendzeit verlebst. Du hast deine Eltern, deine Geschwister, du darfst dir einen Lebensberuf nach deinem Ermessen wählen, hast satt zu essen und bist gesund. – Was willst du mehr?«
»Du hast ja recht, Großchen, mit dem Lebensberuf ist das freilich so ’ne Sache. – Wenn ich nur erst im klaren wäre, was ich einmal werden möchte.«
»Zum Überlegen bleibt dir noch lange Zeit, mein liebes Kind.«
»Ich denke, ich werde Arzt. Dann kommt das große Erleben. Wenn die Todkranken vor mir liegen, mache ich sie mit meinem Können wieder gesund. – Vielleicht werde ich aber auch ein berühmter Erfinder. – Lehrer werde ich ganz bestimmt nicht, Großchen, dieser Beruf gefällt mir nicht.«
»Wer so geschickte Hände hat, wie du, mein Goldköpfchen, dem steht die ganze Welt offen.«
»Du meinst, weil ich so gut sticken kann? Oder weil ich so nette Sträuße binde?«
»Weil du in allem so viel Geschmack entwickelst, Goldköpfchen. Was du dir auch vornimmst, immer sieht es reizend aus. Was für hübsche Dinge machst du aus buntem Papier, wie nett stattest du Körbchen und dergleichen aus, wie anmutig verstehst du einen Tisch zu schmücken.«
»Das ist ja alles ganz schön, Großchen, – wenn nur in meinem Leben das große Erlebnis wäre!«
»Das kommt mit den Jahren, mein geliebtes Goldköpfchen. Das läßt sich nicht gewaltsam herbeiziehen. Eine jeder Mensch hat sein Erleben, der eine früher, der andere später.«
Wieder reihte sich ein Tag an den anderen. Da wurde Goldköpfchen an einem Nachmittage von Großchen mit einem zerbrochenen Schmuckstück zu einem ziemlich weit entfernt wohnenden Goldschmied geschickt. Da Bärbel in Dresden bereits gut Bescheid wußte, wanderte sie, um den Weg abzukürzen, durch mehrere kleine Nebenstraßen und bog schließlich in die steil aufsteigende Friedrichstraße ein.
Es war ein heißer Junitag, Bärbel trug ein schlichtes Voilekleid, das nur durch einige Spitzeneinsätze verziert war.
Ihre Gedanken weilten wieder einmal daheim bei den Eltern. Dabei bekam das jugendfrische Antlitz einen so verträumten Ausdruck; Bärbel vergaß alles um sich her, und schon manchmal war sie in solchen Fällen mit eiligen Fußgängern zusammengestoßen.
Heute wurde sie durch laute Rufe aufgeschreckt. Sie hörte scheltende Stimmen; die großen Blauaugen glitten die Straße entlang.
Vor ihr quälte sich ein vollbeladener Kohlenwagen die steile Straße empor. Bärbel hörte klatschende Schläge einer Peitsche, lautes Fluchen, sie vernahm verschiedene Zurufe von Frauenlippen, und eiligst setzte sich das junge Mädchen in schnellere Gangart, um zu sehen, was es dort vorn gäbe.
Sie überblickte sehr bald die Sachlage. Der beladene Wagen war viel zu schwer für das eine Pferd, das vorhin schon einmal in die Knie gebrochen, vom Kutscher aber roh emporgerissen worden war. Der Körper des Tieres war mit Schweiß bedeckt. Der junge Kutscher hatte die Peitsche umgedreht und schlug nun mit dem Stiel erbarmungslos auf das erschöpfte Pferd ein.
Die entrüsteten Umstehenden wurden von dem Rohling mit wüsten Schimpfworten bedacht, und als der Braune zum zweiten Male vorn in die Knie brach, versetzte der Kutscher dem Tiere mit dem Stiel der Peitsche einen schweren Schlag gegen die Weichen.
Bärbel sah das abscheuliche Schauspiel, und die Empörung wallte in ihr auf. Ihr Temperament riß sie hin. Mit wenigen raschen Sprüngen war sie mitten auf dem Damm, holte mit der Rechten weit aus und versetzte dem Kutscher eine schallende Ohrfeige.
»Tierschinder!«
Die Mütze flog dem Manne vom Kopfe, die Peitsche entfiel seiner Hand, aber im nächsten Augenblick hatte der rohe Bursche Bärbel vorn an der Brust gefaßt. Er schüttelte sie so stark hin und her, daß es dem jungen Mädchen schwarz vor den Augen wurde. Es besaß aber noch so viel Geistesgegenwart, um die kleine lederne Handtasche, die es trug, dem Kutscher ins Gesicht zu schlagen. Dann fühlte sich Goldköpfchen fortgerissen, sie sah sich von Menschen umringt; und als sie verstört wieder zu sich kam, stand vor ihr ein Polizeibeamter. Bärbel wurde von den Armen einer Dame gehalten, aus denen sie sich rasch löste und verlegen stotterte:
»Danke, danke, mir ist nichts.«
Als sie aber an sich heruntersah, stellte sie errötend fest, daß der schmale Spitzeneinsatz auf der Schulter zerrissen war, der Ärmel des Kleides hing weit herab.
Sie raffte ihn hoch und schaute sich nach dem Pferde um, das jetzt wieder auf den Füßen stand. Sie sah auch den Kutscher, erblickte sein hochrotes Gesicht und hörte die lauten Beschimpfungen, die auf ihn herabhagelten.
Dann mußte Bärbel ihren Namen nennen. Sie wollte es anfangs nicht, und nur zögernd kam die Adresse von ihren Lippen.
»So ein tapferes junges Mädchen«, sagte eine der Umstehenden.
»Das war die einzige Strafe für diesen Rohling«, rief eine andere, »die Ohrfeige saß!«
»Das hat mir an Ihnen gefallen!«
Bärbels Hände wurden gedrückt; immer mehr Menschen strömten herbei. Sie war plötzlich der Mittelpunkt des Interesses. Einer erzählte es dem anderen, mit welcher Energie dieses junge Mädchen eingegriffen habe, und immer neue Menschen traten heran, um Bärbel anerkennende Worte zu sagen.
Goldköpfchen wurde immer scheuer und gedrückter. Am liebsten wäre sie jetzt in die Erde gesunken. Wie hatte sie nur so temperamentvoll handeln können!
»Bravo, bravo, kleines Fräulein«, sagte ein alter, weißhaariger Herr und tätschelte Goldköpfchens Hand. »Wenn alle Menschen so mutig vorgehen würden, hätte die Tierquälerei bald ihr Ende gefunden.«
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