Ein Zittern durchlief Goldköpfchens Körper. Es starrte auf den tanzenden Bär, stürmte plötzlich aus dem Kurgarten hinaus, hin zum Strande.
Sie sah nur Kuno; und als er Bärbel erblickte, stürzte er ihr weinend entgegen.
»Die Höhle ist soeben zusammengepurzelt, – der Martin ist futsch!«
Aus dem Sande ragten nur zwei Stiefel hervor. In der nächsten Sekunde begann Bärbel fieberhaft zu wühlen, und wenige Augenblicke später zog sie den stark verstörten Bruder aus dem Sandhaufen hervor.
Als er furchtbar zu schimpfen begann, hätte Bärbel am liebsten vor Freude geweint. Aber sie lachte krampfhaft und bekam dafür von Martin mehrere derbe Püffe.
»Ach du«, sagte sie glücklich, indem sie den Bruder an sich riß, »ich bin so glücklich, daß du wieder da bist!«
Nun begann Martin zu weinen, denn jetzt erst kam es ihm zum Bewußtsein, daß er in dem Sande hätte ersticken können. Aufs neue ergoß sich eine Flut von Scheltworten über Bärbel und Kuno.
Und dann saß Bärbel still und versonnen in der Burg und atmete von Zeit zu Zeit schwer auf. Was wäre geschehen, wenn sie den einzigen Tanz getanzt hätte? Damals hatte ihr die gute Mutter verziehen, als sie den Bär vorgeschützt hatte. Heute wäre namenloses Elend über die Wagnersche Familie gekommen, wenn sie ihrem Verlangen nachgegeben hätte.
Nun schämte sich Goldköpfchen. Wenn die Mutter ihr eben verbot, zu tanzen, mußte sie sich fügen.
Es gab nicht einmal Vorwürfe daheim. Frau Wagner glaubte, daß die Knaben vorweggelaufen wären, und Bärbel konnte ihnen im Galoppschritt nicht nach. Und selbst, wenn sie sich absichtlich auf der Strandpromenade ein wenig verweilt hatte, durfte sie darüber auch nicht schelten. Ein großes Unglück war verhütet worden, die Knaben würden in Zukunft vorsichtiger sein.
In den nächsten Tagen arbeitete Bärbel sehr fleißig an der großen Decke, die sie der Mutter zum Geburtstag schenken wollte, denn dieser Tag fiel noch in die Ferienzeit. Bärbel fühlte sich der Mutter gegenüber recht schuldig und nahm sich vor, Frau Wagner doppelt durch diese schöne Handarbeit zu erfreuen.
Wenn sie aber so still an ihrer Arbeit saß, nagte doch manches an ihrer Seele. Das eine war die blaue Kette, das andere die verkürzte Ferienzeit. Bärbel wagte aber nicht mehr davon zu reden, sie fürchtete den strengen Ton der Mutter. Außerdem war der Vater inzwischen eingetroffen, man hatte manches Tanzvergnügen mit ihr besucht, aber Bärbel konnte nicht genug bekommen.
Als sie eines Tages wieder, bepackt mit der großen Decke, zum Strande gehen wollte, um dort ungestört zu arbeiten, sah sie an einer leeren Bank eine kleine, schwarze Ledertasche hängen.
»Wieder einer, der etwas vergessen hat!« Neugierig nahm sie die Tasche an sich, öffnete sie und erblickte darin zehn Zehnmarkscheine. »Ach – muß das eine Reiche sein, die hundert Mark in der Handtasche mit herumschleppt! – Wenn ich doch ein einziges Mal hundert Mark hätte!«
Und während Bärbel die Scheine immer wieder durch die Finger gleiten ließ, träumte sie von seidenen Kleidern, einer blauen Kette, dem bunten Bademantel und einer grellgelben Badekappe.
»Mumpitz«, sagte sie seufzend, »das ist ja nicht mein Eigentum. Aber wenn die reiche Frau die Tasche aus dem Bureau abholt, wird sie mir sicher einen fabelhaften Finderlohn geben. Dann kaufe ich mir doch die blaue Kette. Die Mutti wird dann auch nichts mehr dagegen haben.«
Wieviel Finderlohn würde sie wohl bekommen? Ganz bestimmt doch zehn Mark. – Vielleicht gab man ihr auch zwanzig. Vielleicht sagte die Betreffende auch, daß ihr an dem Gelde gar nichts liege. Denn wenn man hundert Mark alltäglich mit sich herumträgt, mußte man furchtbar reich sein.
Sorgsam steckte Bärbel alles in die Tasche zurück. Es war wohl am besten, sie ging gleich nach dem Fundbüro.
Aber da stürmte ihr auch schon ein junges Mädchen entgegen.
»Meine Tasche, meine Tasche!«
Voller Staunen betrachtete Bärbel die Erregte. Lieber Himmel, hatte die ein hageres Gesicht und so ein einfaches Kleid. Die sah doch gar nicht aus, als ob sie sehr reich sei.
Bärbel versteckte die gefundene Tasche auf dem Rücken.
»Sie werden einsehen, mein Fräulein, daß ich zuerst ein Verhör mit Ihnen anstellen muß, ehe ich Ihnen die Tasche zurückgeben kann.«
Mit fliegendem Atem schilderte die andere, was sich in der Tasche befände, so daß Bärbel keinen Zweifel mehr hegen konnte, daß sie die rechtmäßige Besitzerin vor sich habe.
Da saßen sie nun nebeneinander auf der Bank, Bärbel voller Spannung darauf, was sie nun wohl bekommen würde, und die andere noch immer zitternd vor Erregung, aber doch innerlich beglückt, daß die Tasche wiedergefunden war. Ganz von selbst begann sie zu erzählen, und Bärbels Augen wurden immer größer.
Acht Tage Ferien waren der anderen zugebilligt worden, die von morgens acht Uhr bis abends acht Uhr als Verkäuferin in Berlin tätig war und die dann abends noch zu einem Herrn ging, um ihm Schreibarbeiten zu machen.
»Ich bin zum ersten Male an der See. Seit zwei Jahren freue ich mich auf meine Ferien. Ich habe daheim eine Mutter und noch vier Geschwister zu ernähren. Diese hundert Mark sind alles, was ich in langen Monaten gespart habe. Ich muß davon auch noch etwas wieder heimbringen. Ach, wie bin ich glücklich, daß ich hier sein darf.«
»Acht Tage?« fragte Bärbel kleinlaut.
»Ist das nicht eine schöne Zeit? Denken Sie doch, acht ganze Tage Ferien! Einmal ausruhen zu dürfen, frische Luft zu atmen. – In Berlin schaue ich in einen kleinen Hof hinab, kein grünes Blatt ist zu sehen, kein Vogelgezwitscher zu hören. Ach, es ist ja so wunderbar schön hier!«
»Gehen Sie auch tanzen?«
»Nein, – ich genieße die See, die wundervolle blaue See! Kann es denn überhaupt noch etwas Schöneres geben, als diese Pracht zu sehen? Und die bewaldeten Höhen, ich kann mich nicht satt daran schauen.«
Bärbel wurde immer stiller. Sie war mit vier Wochen Ferien nicht zufrieden, sie wollte Vergnügen aller Art haben; und neben ihr saß auch ein junges Mädchen, dem strahlte das Glück aus den Augen, acht Tage lang Ferien zu haben und Berge und See zu schauen.
Dann kam der stürmische Dank, daß Bärbel die Tasche zurückgegeben hatte.
»Ich bin Ihnen doch einen Finderlohn schuldig. Darf ich Ihnen diesen Schein geben? Werden Sie es mir übelnehmen?«
Bärbel sprang auf. »Was denken Sie denn!« Das junge Mädchen erschien ihr plötzlich so unnahbar, darum sagte sie zögernd: »Gnädiges Fräulein, ich denke gar nicht daran, wie käme ich dazu, etwas anzunehmen. – Erfreuen Sie sich weiter. Also, – viel Vergnügen, gnädiges Fräulein.«
Bärbel eilte davon. Auch jetzt wieder hatte sie das Gefühl, als nähme ihr ein Stein, der schwer auf dem jungen Herzen lag, den Atem fort.
Erst am Strande wurde ihr wieder leichter. Sie schaute lange auf die weite, blaue See hinaus, dann blickte sie rückwärts zu den bewaldeten Höhen. Goldköpfchen hatte plötzlich das Empfinden, als sei See und Wald noch nie so wunderschön gewesen wie heute.
»Vier Wochen Ferien«, sagte sie laut vor sich hin, »oh, das sind viermal acht Tage. Das ist doch eine sehr lange Zeit! Ja, man kann doch glücklich sein, wenn man vier Wochen Ferien hat.«
Das junge Mädchen ging Goldköpfchen nicht mehr aus dem Kopfe. Von früh acht Uhr bis abends acht Uhr mußte es arbeiten, und Bärbel klagte schon über die kurzen Schulstunden. – Auch Harald Wendelin mußte arbeiten, und doch schrieb er so beglückt, daß ihm sein Beruf große Freude mache.
Sein Beruf! – Ja, einen Beruf mußte der Mensch wohl haben. Wie interessant verstand Fräulein Römer aus dem Strandkorb von nebenan zu erzählen, die eine Frauenschule besuchte und sich zur Säuglingsschwester ausbilden ließ. Dann hatte Bärbel zwei andere Damen belauscht, die in der Armenpflege tätig waren und auch so viel Interessantes zu berichten wußten.
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