Ihre Kindheit war in einer gemütlichen Mittelstandsumgebung abgelaufen. Mit weitläufigem Garten hinter dem Haus, ein paar Haustieren und ohne anstrengende Geschwister. Mit ihren Eltern konnte sie noch bis heute ohne bemerkenswerte Zwischenfälle prima plaudern. Mami war der Mittelpunkt einer allwissenden und wohlgehüteten Ordnung, Papi sowieso ihre ganz große Liebe.
Sie hatte ja gut reden.
Dank ihres einzigen lebenden Opas, der nur drei Straßen weiter gewohnt hatte, lernte sie bereits lange vor der Schulzeit Lesen. Sie hatte den Tabakgeruch seiner Pfeifen geliebt und besaß heute noch uralte Bücher aus seiner Sammlung. Na gut, die Pfeifen hatten Opa irgendwann danieder gestreckt, aber er war trotz seines Kehlkopfkrebses ein sehr alter Mann geworden. Als er starb, war sie schon erwachsen genug, um Abschied nehmen zu können.
Sie hatte ja gut reden.
Niemand hatte sie je irgendwo angefasst, wo er nicht sollte. Mit den meisten Lehrern war sie gut parat gekommen und schwamm im oberen Leistungsdrittel locker mit. Sie hatte einen erfüllenden Job. Sie hatte noch nie einen Vollrausch gehabt.
Sie hatte ja gut reden.
Nadine merkte, wie sie immer noch wie gebannt auf die orthopädischen Strümpfe starrte. Loriot hatte sich mittlerweile neben sie gesetzt und schaute zu ihr hoch. Ihm war die Sache wohl nicht ganz geheuer, er fing leise an zu fiepen.
Sie sah gedankenverloren zu ihm hinunter. Dann ging sie langsam weiter.
Es gab da so eine Kleinigkeit.
Sie mochte ihren Namen nicht.
In ihrer Grundschulklasse hatte es noch zwei weitere Nadines gegeben, in der Oberstufe auf dem Gymnasium vier. Da hatten ihre Eltern Ende der siebziger Jahre nicht viel Fantasie bewiesen, der Name war zu der Zeit eher unoriginell. Und die zahlreichen Verballhornungen nervten sie. Nadinchen, Dina, Nani, Naddi. Ganz schlimm: Naddel. Aber den Vogel hatte damals in der neunten Klasse der dicke Christian abgeschossen. Er hatte sie Nacho getauft. Dieser Name klebte bis heute wie Pech an ihr. Der einzige Trost, der ihr blieb, waren die fünf weiteren Christians in ihrer Stufe. Da hatte es wohl noch andere Eltern gegeben, die keine pfiffigeren Ideen für ihre Sprösslinge in Sachen Namensgebung gehabt hatten.
Dabei ging es ihr doch gut mit ihrem Namen. Da gab es damals Wolke. Die mit den Hippie-Eltern. Zweimal war sie bei ihr zu Besuch gewesen und hatte sich immer über den schweren Geruch gewundert, der durch die Räume der knallbunten Wohnung gezogen war. Seltsames Parfum, hatte sie in jener Zeit mit ihren acht Jahren gedacht. Von diesen sonderbaren bewusstseinserweiternden Substanzen hatte sie erst viel später gehört. Aber da ließ Wolke schon lange niemanden mehr zu sich nach Hause. Das letzte Mal hatte sie eine Schulfreundin bei sich zu Besuch, als ihre Eltern nebenan lautstark bei Übung dreiundvierzig aus dem Kamasutra angekommen waren. So lautete zumindest das Gerücht. Mehr wusste sie ohnehin nicht über Wolke, die kurz vor dem Abi die Schule verlassen hatte. Angeblich war sie mit einem sechszehn Jahre älteren Bänker durchgebrannt und wohnte jetzt – zweimal geschieden – in irgendeinem südbayerischen Kaff. Mit drei Kindern. Ja, so eine Kindheit konnte einem alles versauen. Wolke hatte eben Pech gehabt, dass ausgerechnet ihre Erziehungsberechtigten die Hippiezeit noch bis weit in die Achtziger durchleben wollten.
Ihr Name als Kindheitstrauma? Wie banal.
Nadine war mittlerweile in ihrer Straße angekommen. Loriot zog sie bis zur Haustür, zergelte weiter an der Leine, während sie versuchte, ihre Post aus dem Briefkasten herauszusammeln. Mit den Briefen unterm Kinn fummelte sie ihren Hausschlüssel auf dem Weg in den zweiten Stock aus ihrer heute wieder unendlich tiefen Handtasche.
»Hallo Fippsi«, sagte sie zu der geschlossenen Wohnungstür neben ihrer eigenen. Unter der Türschwelle kroch der Geruch des Parfums hervor, das schon Wolkes Eltern benutzt hatten. Als sie die eigene Tür hinter sich zugezogen hatte, hörte sie durch die Stille ihres kleinen Flurs, dass ihre Nachbarin gerade Geld verdiente. Ihr erster Griff ging sofort zum CD-Player, um das wilde Geknarzte mit dem Adagietto von Gustavs Mahler Symphonie Nummer fünf zu untermalen. Der nächste Griff ging in den Kühlschrank, wo noch ein Rest vom gestrigen Rotwein auf sie wartete. Sie schenkte sich ein Glas ein und stellte es auf den kleinen Beistelltisch neben Mr. Snug.
Und dann ließ sie sich hineinfallen in ihren alten Ohrensessel. Sie lehnte sich zurück, legte die Arme auf die wulstige Lehne aus Leder, schmiegte sich in das stoffbezogene Sitzkissen. Ein Traumstück, das sie mit viel logistischem Aufwand vor ein paar Jahren aus dem ehemaligen Kuhstall ihrer Tante gerettet hatte. Nach drei Flaschen Febreze war er der Mittelpunkt ihrer winzigen Altbauwohnung geworden, zentral zwischen den bis zur Zimmerdecke aufgestapelten Billy-Regalen, die alle von Büchern überquollen.
Loriot verstand ihr offenkundig entspanntes Zurücklehnen als Einladung und sprang ihr schwanzwedelnd auf den Schoß. Er tappte dreimal im Kreis herum, ließ sich endlich schnaufend nieder und rollte sich zu einer atmenden Kugel zusammen.
Nadine versenkte ihre Finger in sein weiches Fell. Sie streifte ihre Schuhe ab und zog seufzend die müden Zehen ein. Ding, ding, jetzt bitte einsteigen zur nächsten Runde! Ihr Gedankenkarussell nahm wieder Fahrt auf.
Sarahs Eltern waren nicht nur geschieden, sie hatten den gesamten Rosenkrieg über ihre drei Kinder ausgetragen. Jahrelang. Irgendwas hatte sie auch mal von einem Onkel erwähnt, die Andeutungen verhießen nichts Gutes.
Da konnte sie selbst natürlich nicht mitreden.
Ihre Nachbarin Fippsi kam aus einer Familie, die seit Generationen Hartz IV bezog. Alkohol hatten die Eltern, Drogen ihre Brüder außer Gefecht gesetzt. Nach ihrem eigenen Entzug verdiente sie ihr Geld mit - na ja, so genau wollte Nadine sich das gar nicht vorstellen.
Da konnte sie selbst natürlich nicht mitreden.
Karl, ein Kollege aus dem Verlag, war einer von diesen Jungs, die in so einem katholischen Internat von Anfang an ganz eigene Vorstellungen von Nächstenliebe durch einen Priester hatte erfahren dürfen. Erst vor zwei Jahren hatte er sich endlich offenbart und sich den Entschädigungsforderungen von ebenfalls Betroffenen angeschlossen. Bislang ohne Erfolg.
Da konnte sie selbst natürlich nicht mitreden.
Sarah konnte nicht von ihrer Ehe mit ihrem jähzornigen Mann loslassen, Fippsi kotzte sich jeden Abend leer, Karl hatte einen ausgeprägten Wasch- und Putzzwang.
Was wusste sie schon vom Leben?
Und das waren von unzähligen Beispielen nur die ersten drei, die ihr spontan einfielen.
All diese traurigen Lebensschicksale erklärten deren jeweiliges Heute. Mit so einer Kindheit war für den Rest des Lebens die Duftmarke gesetzt. Unentrinnbar. Wenn später etwas schief lief, war das nur logisch. Nadine verstand das.
Das erklärte aber nicht, warum ihr Leben nicht einfach perfekt war. Zumindest nach den Normen dieser Welt, in der sie lebte.
Dass sie immer noch alleine wohnte. Mit gut Anfang dreißig. Mitte dreißig. Schon über Mitte dreißig. Ohne Mann, ohne Reihenhäuschen, ohne Kinder, ohne Bidet.
Wenn sie ihre Kindheit nicht dafür verantwortlich machen konnte, dann war sie es wohl selbst schuld.
Das tat weh.
Sie entschied sich um: Eine gute Kindheit war eben eine schlechte Lebensvorbereitung.
Blöde Ausrede, das funktionierte auch nicht richtig.
Ein Klingeln riss sie aus ihren Schlussfolgerungen. Vorsichtig hob sie Loriot von ihrem Schoß, raffte sich aus ihrem Sessel und ging zu dem Regal, aus dem das Geräusch kam. Unter drei Büchern lag das schnurlose Festnetztelefon begraben.
»Hallo Mami.«
»Na, mein kleiner Papierwurm? Wie war dein Tag bis heute?«
»Ich sinniere gerade über mein Karma. Sonst ist alles gut.«
Читать дальше