Er schüttelt den Kopf. „Vater, das ist keine Antwort. Ich habe nach Entweder-Oder gefragt. Also gut, ich bestelle das Abendessen und gehe dann schnell mit Micha zum Hof und zu Tante Berta, einverstanden?“
Der Vater fängt fast unmerklich an zu zittern.
„Beruhige dich doch, wir sind gleich wieder da, versprochen.“ Claudia ist sehr besorgt um ihren Vater; sie legt ihre Hand auf seinen Kopf und streichelt seine kurzgeschnittenen Haare. Dann geht sie in die Küche.
Ich kann eigentlich schon lange zwischen meinem, deinem und unserem Problem unterscheiden. Aber so allmählich mischen sich hier die Unterscheidungsmerkmale. Was soll ich machen? Es gibt das Problem mit dem Hof, das lässt sich vermutlich regeln und ich kann mich hoffentlich aus Details heraushalten.
Was fängt man aber mit dem Vater an und was ist los mit ihm? Alles an ihm ist grau, auch seine Haut. Und wie er da hockt, sehen seine Seele und der Verstand vermutlich nicht viel anders aus.
Soviel ich verstanden habe, hat Vater Menzel seinen Hof von der LPG zurückerhalten und in kurzer Zeit mit viel Energie wieder aufgebaut und leistungsfähig gemacht. Es hat zumindest die Familie ernährt.
Nun ist er über Nacht zu einem Greis geworden. In ihm ist etwas zerbrochen, das Drama hat seinen Verstand gelähmt und seinen Willen sterben lasen. Diesen Eindruck macht er auf mich.
In unserem Strafrecht werden nur die verfolgt und verurteilt, die jemanden körperlich verletzt und getötet haben. Was ist aber mit den vielen Zombies, deren Seele so zerstört wurde, dass sie entweder über kurz oder lang an dieser Krankheit sterben oder als Halbtote nur noch ein elendes Dasein fristen, unfähig zur Liebe und zum Vertrauen oder wenn´s halbwegs „gut” geht, nur noch irgendwie funktionieren, um nach außen den Schein zu wahren. Vater hat alles verloren: Seine Frau, seine Lebensaufgabe, seine Existenz, seine Zukunft und seine Hoffnung. Nichts ist ihm geblieben, außer seiner Tochter. Aber die ist kein Ersatz.
Er hat Glück gehabt mit ihr, würde sie aber jetzt noch bei ihm bleiben? Ich kann seinen Lebensunmut fast verstehen. So sieht also ein Mensch aus, der alle Hoffnung verloren hat, der aufgegeben hat. Er erinnert mich an Hiob. Es ist der trostloseste Anblick, den ich seit langem erlebt habe. Mir wird plötzlich bewusst, dass ich wahrscheinlich nicht viel jünger bin als er, allenfalls geschätzte fünf bis acht Jahre. Ich habe ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, meine Frau verloren, nur ist in mir nicht die Hoffnung gestorben. Das ist der lebenserhaltende Unterschied.
Denn ich bin auf dem besten Weg, noch einmal neu zu beginnen.
Claudia kommt aus der Küche zurück: „In gut einer halben Stunde bekommen wir ein feines Abendessen, das Körper und Seele versöhnen kann.“
Sie lacht und sagt zu ihrem Vater: „Du wartest hier auf uns, wir sind gleich zurück. Wir schauen nur nochmal nach Tante Berta, hörst du?“ Er nickt kaum merklich.
Claudia schiebt mich zur Tür hinaus.
Die Sonne steht schon tief, die Luft ist noch warm und riecht nach feuchter Erde. Wir laufen die Straße hinunter bis zu ihrem Anwesen, halten uns an den Händen und sehen vermutlich aus wie zwei übermütig Verliebte.
Es passt überhaupt nicht zur Situation, denn wir sind umgeben von Unglück und Trauer und auf dem Weg zu ihrer Ursache. Glücklicherweise begegnet uns niemand, der an uns Anstoß nehmen könnte. Wie heißt es bei solchen Gelegenheiten immer so schön: Das Leben geht weiter!
Als wir vor dem Hoftor ankommen, sehe ich gerade noch, wie sich der Bauernbursche von vorhin hinter einem mächtigen Baum auf der anderen Straßenseite versteckt.
„Claudia, hast du den Kerl diesmal gesehen?“ Ich zeige auf den Baum.
„Nein, vielleicht siehst du ja Gespenster.“
Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich laufe über die Straße und will mir den Burschen schnappen. Er muss mich kommen gesehen haben, denn als ich ihn fast erreiche, läuft er mit hohem Tempo davon. Ich habe keine Chance.
„Hast du ihn wenigstens jetzt erkannt?“
Claudia steht noch immer vor dem Hoftor und sieht meinem Treiben zu. „Na klar, das ist Paul Jansen. Ich bin mal eine Zeit lang mit ihm zur Schule gegangen. Er war eine Klasse unter mir, dann zwei und dann drei, ich glaube, irgendwann war er dann alt genug, um aufzuhören. Ich habe Abitur gemacht, weißt du das. Ich bin von der LPG delegiert worden.“
„Und warum verfolgt er dich jetzt?“
„Frage ihn doch, was weiß ich?“
Und Claudia geht mir voraus auf den Hof.
Es sieht hier wirklich trostlos aus. Schwarzgefärbte Fensterhöhlen stieren mich wie tote Augen an. Über allem liegt noch modriger Brandgeruch; es ist kein Ort, an dem man gerne verweilen möchte. Tante Berta kommt aus dem Haus; sie zeigt auf den kleinen vom Feuer verschonten Stall: „Die Tiere sind versorgt, die Hühner legen sogar schon wieder Eier.“
Ich gehe durch eine offene Tür in den Stall. Im Dämmerlicht erkenne ich eine Kuh, ein Schwein, zwei Schafe und eine Ziege. Sie stehen hinter Gattern und beäugen mich neugierig. Bauernidylle mit warmem Stallgeruch. Claudia ist mir nachgegangen und Tante Berta steht jetzt auch in der Tür.
„Das ist Tante Bertas Stall. Sie sorgt für den Eigenbedarf. Wenigstens das ist geblieben. Wenn ich nur wüsste, wie es weitergehen soll.“
Tante Berta ist rund und wirft einen breiten Schatten, keinen hohen. Und sie scheint unerschütterlich: „Wenn man Krieg und Vertreibung, Hunger und Armut und das Fünfmal-von-vorne-beginnen durch hat, ist man nur kurzzeitig zu erschüttern; es muss immer wieder weitergehen. Claudia, hast du es ihm schon gesagt? Er ist es doch?“
„Tante Berta!!“ Claudia ruft erschrocken und vorwurfsvoll. Tante Berta verstummt sofort und ich werde neugierig: „Was soll sie mir sagen?“
„Frage sie doch.“
„Das tue ich doch gerade.“
Claudia unterbricht uns: „Wir müssen zurück zum Vater, der wird sich schon ängstigen.“ Sie dreht sich um und quetscht sich an Tante Berta vorbei ins Freie. Ich versuche es noch mal bei Tante Berta:
„Was ist das für ein Geheimnis, macht es doch nicht so spannend. Ist es wirklich wichtig, was sie mir sagen soll?“
„Das kann man wohl sagen! Glücklicherweise seid ihr Mannsbilder beim Begreifen nie die Schnellsten; sie wird es dir schon sagen, sei nur nett zu ihr.“ Und Tante Berta zieht erhobenen Hauptes ab in ihr versengtes Schlösschen.
Ich laufe Claudia hinterher. Sie marschiert mit kräftigen Schritten die Straße hinunter. Die Katzenkopfsteine waren vor noch nicht langer Zeit mit einer Teerdecke überzogen worden. Jetzt haben sie auch hier angefangen, Randsteine für einen Bürgersteig zu setzen. Vor ihrem Hof legen sie einen gewaltigen Kreisverkehr an. Jemand muss eine überregionale Geldquelle entdeckt haben.
Ich erreiche Claudia erst vor der Tür des Gasthofes. „Warum hast du´s denn plötzlich so eilig. Ein alter Mann ist doch kein D-Zug.“ Ich bin kurzatmig vom Rennen.
„Meckere nicht! Wir hatten versprochen, schnell zurück zu sein, erinnerst du dich?“ Sie weicht mir also aus.
Der Wirt hat in der Gaststube Licht gemacht, es bleibt trotzdem schummrig.
Der Vater sitzt zusammengekauert noch immer an seinem Platz. Er sieht aus, als wollte er in sich verschwinden. Ich habe noch nie mit angesehen, wie ein Mensch von innen her, an seiner Seele eingeht. Er tut mir Leid. Aber wie kann ich ihm helfen, soll ich das überhaupt?
Claudia legt ihren Arm um die Schulter des Vaters und drückt ihn an sich. „Vater, hör doch auf, so traurig zu sein. Das Leben ist noch nicht zu Ende. Du hast doch mich... und Tante Berta. Sie grüßt dich. Wir werden jetzt ein schönes Abendessen bekommen, vielleicht geht es dir dann etwas besser.“
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