Und nach meinem privaten Misserfolg, ist die Lebenslust insgesamt etwas melancholisch geworden. Da hocke ich nun in meinen vier Wänden; das Fernsehprogramm ist zum Weggucken, das Essen schnell gemacht und gegessen, und ich bin mir selber ausgeliefert.
Zum Trost mache ich mir einen Rotwein von den älteren Jahrgängen auf und verdrücke mich damit in meinen bequemsten Sessel.
Ich will versuchen, mich mit diesem Tag doch noch zu versöhnen. Mit übler Laune lässt sich nicht gut schlafen.
Und dabei fällt mir Claudia ein. Und die wunderschöne Zeit an der Ostsee, und in mir keimt Sehnsucht auf, Sehnsucht nach dem Geruch ihrer Haut. Auch nach Sonne und Erde, die so unnachahmlich duftet, wenn nach langer Trockenheit im Sommer die ersten Regentropfen fallen.
Es ist inzwischen Herbst geworden, die Abende werden länger und die wären vermutlich viel schöner, wenn ich sie mit einem lieben Menschen verbringen könnte. Ich sollte sie endlich einmal anrufen und suche nun stundenlang nach dem Zettel mit Adresse und Telefonnummer. Ich habe ihn sehr gut weggelegt, an einen völlig logischen Platz. Das ist doch klar!
Ich ärgere mich, dass ich so lange gewartet habe; es würde mir gerade heute gut tun, mit ihr zu sprechen. Mir fällt aber noch nicht einmal das Kaff ein, in dem sie lebt, ihren Nachnamen weiß ich auch nicht! Ich könnte im Internet suchen, aber wonach?
Es wird vermutlich besser sein, mich noch einmal auf den Weg zu machen, um sie auf ihrem Hof zu besuchen. Die Arbeit auf einem bäuerlichen Anwesen sollte, jahreszeitlich bedingt, allmählich weniger geworden sein, und sie müsste, nach meinen Vorstellungen, jetzt mehr Freizeit haben.
Vielleicht könnte ich Claudia noch einmal entführen. Unser gemeinsamer Ausflug an die See hatte sich in meiner Erinnerung inzwischen zu einem Abstecher ins Paradies verwandelt. Es ist schon erstaunlich, worauf eine angeregte Phantasie so alles kommt. Ich nehme mir vor, an diesem Wochenende einen Neuanfang zu versuchen und kann kaum noch an etwas anderes denken, weder mit Kopf noch mit Bauch. Ich packe schon Mitte der Woche einen kleinen Koffer und will vorbereitet sein, falls ich sie wieder zu einem spontanen Ausflug überreden kann.
Ich steigere mich derartig in meine Vorfreude, dass ich sämtliche Zweifel zum Schweigen überreden kann. Ob sie mich nach so langer Funkstille überhaupt wiedererkennen wird oder ob sie ein Wiedersehen noch wünscht?
Am Sonnabendmorgen fahre ich mit gemischten Gefühlen los. Diesmal mit meiner Limousine. Inzwischen bin ich so unsicher geworden, dass ich mich vor dieser Begegnung fast fürchte und es lieber dem sogenannten Zufall überlassen würde und ihn entscheiden ließe, ob es eine Fortsetzung geben soll. Meine Amoklaufende Phantasie bringt mich fast aus dem Gleichgewicht. Bisher bin ich eigentlich bekannt für meine rationale Denke, der ich nur gelegentlich Ausflüge ins Emotionale gestatte. Aber selbst dann bin ich immer noch Herr in meinem Hause.
Mein Herz schlägt wie verrückt, je näher ich ihrem Dorf komme.
Die Landschaft zieht an mir wie im Nebel vorüber und meine fünf Sinne funktionieren automatisch, soweit ich sie zum Autofahren benötige. Glücklicherweise gibt es wenig Verkehr!
Langsam fahre ich ins Dorf ein. Ich erkenne es wieder. Schönwerder steht auf dem gelben Ortsschild.
Der Hof war, so erinnerte ich das, auf der rechten Straßenseite, kurz vor dem Ortsausgang, dort wo ich vor fast fünf Monaten auf den Abzug eines Jauchewagen gewartet hatte und Claudia dann auf der Rückreise wieder ausgestiegen war.
Ist das der Ort?
Das Wohnhaus ist kaum wiederzuerkennen, es ist zur Hälfte mit hellen Planen abgedeckt und über die Umfassungsmauer ragen schwarz verkohlte Dachgerippe kahl in den Himmel. Ich wende und parke auf der gegenüberliegenden Straßenseite und gehe langsam auf dieses Fiasko zu. Ob dieser Hölle einer entkommen ist? Das Unglück kann noch nicht lange her sein. Der Hof ist mit Schutt bedeckt, verkohltes Heu liegt verstreut herum und es riecht nach modrigem Kalk und verbranntem Fleisch.
Das kleine Stallgebäude auf der rechten Hofseite ist intakt geblieben, aus ihm höre ich leises Schnauben und Scharren von Tieren. Aber keine Menschenseele lässt sich blicken.
Ich gehe hinüber zu den Hauptstallungen beziehungsweise zu dem, was davon noch übrig ist. In einer Art Remise stehen ein ausgebrannter Traktor und einige verglühte, schon mit Flugrost überzogene Feldgeräte.
Was war mit den Tieren in den Ställen geschehen? Das angrenzende Wohnhaus ist erheblich beschädigt. Es hat jetzt nur noch ein Foliendach und zur Straße hin einige intakte Räume. Aber kann man in denen wohnen, vermutlich ist alles mit Ruß überzogen. Soviel weiß ich noch: Die Familie war erst kurz nach der Wende hier wieder eingezogen, hatte ihren Hof zurückbekommen, hatte, überwiegend mit eigenen Mitteln alles wieder ansehnlich hergerichtet. Und nun haben sie nur noch Ruinen.
Ich stehe vor dem Wohnhaus und bin erschüttert über das Ausmaß der Verwüstung. Als meine Augen am Haus mit seinen geschwärzten Fensterhöhlen herunter wandern, bleiben sie an der Eingangstür hängen; in der offenen Tür steht regungslos eine alte Frau. Sie fixiert mich, versucht ein Lächeln. Mit leiser Stimme fragt sie: „Sind Sie von der Versicherung?“ Ich muss sie enttäuschen: „Nein, ich kenne die Claudia ganz gut und will sie besuchen.“
Ich spreche laut und deutlich. Von alten Leuten habe ich immer die Vermutung, sie könnten nicht mehr gut hören.
Nun lächelt sie doch: „Ich höre noch gut! Sie müssen nicht so schreien! Claudia ist im Gasthof, sie wohnt vorläufig mit ihrem Vater dort. Es sind keine hundert Meter. Auf der anderen Seite. Versuchen Sie´s, sie wird sich freuen.“
Sie spricht freundlich zu mir, mit warmer, samtweicher Stimme, wie zu einem, der sich schwer tut, zu verstehen. Und sie geht zurück ins Haus. Da habe ich mir ja für meinen Besuch einen wunderbaren Zeitpunkt ausgesucht. Was für eine Claudia werde ich antreffen, hat sie noch Ähnlichkeit mit der sommerlichen Claudia?
Ich habe viele Zweifel.
Es ist noch einmal warm geworden, die Straße ist staubig und die wenigen Blätter, die sich noch an den Bäumen halten, haben einen grauen Überzug. Ein kleiner Sommer hat noch einmal hereingeschaut, als hätte er vergessen, sich zu verabschieden und als wollte er (Hesse zitierend) das nun nachholen. Man möchte ihm zurufen:
„Mein Lieber, lass dir Zeit und sieh noch mal nach dem Wein und den Rosen...”
Ich gehe zum Gasthof, der sinniger Weise „Zur glücklichen Einkehr“ heißt. Als ich die Gaststube betrete, sehe ich ersteinmal nur Konturen. Meine Augen brauchen einen Augenblick, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Claudia sitzt am letzten Tisch in dem langen Raum. Ich erkenne ihr Profil. Bei ihr ist vermutlich ihr Vater, ein alter Mann in grauer Arbeitsmontur.
Ich zögere, noch hat sie mich nicht entdeckt; ich könnte unerkannt wieder gehen, könnte wegfahren und hoffentlich alles schnell vergessen. Irgendjemand ruft in mir auch überlaut: Hau ab!
Aber ich erwähnte es schon, die Ratio hat bei mir nicht immer das letzte Wort. Ich gehe also auf Claudia zu, berührte ihren Arm und sie sieht zu mir auf, erhebt sich langsam und sieht mich fragend an. Genau das habe ich befürchtet.
Dann huscht ein leises Lächeln über ihr Gesicht: „Du kommst gerade richtig.” Sie hält ihren Kopf schräg und hebt die Schultern, ihr Gesicht spricht Bände. „Darf ich dir meinen Vater vorstellen?“ Und sie stößt den alten Mann an. Der sieht nur kurz auf und knarzt ein „Tach“ heraus.
„Du musst es ihm nicht übelnehmen. Es geht ihm nicht gut. Übermorgen beerdigen wir meine Mutter. Sie ist noch in derselben Nacht gestorben, ihr Herz hat nicht mehr mitgemacht. Dabei war sie eine so starke Frau. Sie war immer zupackender als mein Vater.“
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