„Sie haben Blähungen, Herr Leppmann.“
Ich versuche erst gar keinen kollegialen Widerspruch. Denn ihre falsche Chianti-Maske sagt: „Wegen deiner Schwindelei musste ich dich schon einmal auf der Station aufnehmen, deine ‚Blinddarmentzündung’ entlüftest du gefälligst anderswo!“
Soso, denke ich mir, als ich die Praxis wieder verlasse, Blähungen also. Darauf würde ich gern einen lassen. Wenn ich nur könnte. Kann ich aber nicht. Ich weiß nicht, ob diese Zwiebackdiät das Richtige ist.
Auf jeden Fall werde ich Tina nichts von alledem erzählen. Sie ist immer so schnell beunruhigt. Und wenn sie das erst einmal ist, dauert es nicht lange, bis ich es auch bin. Außerdem finde ich es ganz schön, so ganz für mich ein Held zu sein. Keine Schmerzen zeigen, keine Probleme nach außen dringen lassen, ein ganzer Kerl sein. Nur ich allein weiß, wie es um mich steht. Wie ein Soldat stehe ich einsam auf Höhe drei-eins-neun mitten im Kreuzfeuer gegnerischer Sorgensalven und halte die Flagge der Tapferkeit stolz in die Höhe.
Auf dem Weg nach Hause komme ich mir aber doch ein wenig missverstanden vor. Vielleicht kann man das Gefühl mit dem von George W. Bush vergleichen, der wohl wie kein anderer US-Präsident vor ihm seine ganze Amtszeit lang mit Missverständnissen zu kämpfen hatte. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch er schon oft Bauchschmerzen hatte, über die er mit seinen Liebsten nicht reden durfte:
„George, Liebster, hast du was?“ Die Firstlady schaut bekümmert drein.
„Nein Liebste, es ist nichts, wirklich.“ Der Präsident übt, gravitätisch durch das Oval Office zu schreiten, als das Telefon klingelt. Es ist Mike Mullen, sein höchster General.
„Sir, wir brauchen eine Entscheidung.“
„Von mir?“
„Ja.“
„Ok.“
„Können Sie das bitte wiederholen?“
„Was?“
„Ok.“
„Ok?“
„Ja.“
„Ok.“
„Danke, Sir. Möge Gott uns beistehen.“
Mullen hängt ein, bevor der Präsident ihn fragen kann, worum es denn eigentlich ging, und lässt ihn vor den Augen der Welt ein weiteres Mal als Depp des Jahres dastehen. An sich nichts Ungewöhnliches, für George W. - wenn sich nicht die Auswirkungen seiner Entscheidungen stets zu gewaltigen mondialen Blähungen auswachsen würden. Ist das nicht ungerecht?
Zum Glück stellen sich während der Fahrt nach Hause die Schmerzen wieder ein. Fast wäre ich der Chianti-Schwester auf den Leim gegangen. Wie sollte ich auch Blähungen haben? Vor lauter Zwiebackdiät habe ich mittlerweile nämlich eine ausgemachte Verstopfung. Seit bald zwei Tagen mühe ich mich auf dem Topf ab, drück mir bald die Innereien aus dem Leib. Ohne Erfolg. Das Einzige was ich bekommen habe sind schmerzende Hämorrhoiden. Aber dagegen gibt es wenigstens Zäpfchen, sage ich mir. Gegen akute Blinddarmentzündung - nur Operation. Also weiter Diät. Ich muss allerdings vorsichtig sein, damit Tina keinen Verdacht schöpft. Die ganze Fahrt Zwieback futternd einen auf Spontan-Veganer zu machen, provoziert gefährliche Fragen. Meine Frau ist zwar einiges von mir gewöhnt, aber dass Zwieback plötzlich zu meinem erklärten Lieblingslebensmittel wird, glaubt selbst sie nicht.
Nachdem die Kinder endlich im Bett sind, fallen wir auf die Couch und versuchen, uns vor dem Fernseher möglichst schnell müde zu sehen. Immerhin hat Tina einen ehrgeizigen Reiseplan: Wecken um zwei, die Kinder um drei und anschließend Abfahrt. Mein Magen hängt da schon auf halb acht und in meinem Darm ist es bereits fünf vor zwölf. Trotzdem zieh ich das jetzt durch. Heldenhaft. Ich muss nur vorsichtig sein. Zuversicht ausstrahlend hamstere ich zwei, drei kleine Zwiebacke in meinen Backentaschen und kaue, wenn Tina nicht herschaut oder im Fernsehen alle Minute einer umgebracht wird. So schaffe ich in einer halben Stunde die ganze Packung. Es ist die letzte; die restlichen bunkern bereits im Auto. Ich gehe zu Bett.
Mein Bauch hat mittlerweile etwa den gleichen Härtegrad wie unsere Gesundheitsmatratze und meine Bauchschmerzen nagen an meinem Schlaf.
Immerhin habe ich dann aber doch drei Stunden geschlafen. Das sollte für genügend Energie bis zum Brenner reichen. Vielleicht nicht ganz.
*
Seit etwa einer Stunde sind wir nun unterwegs und Tina ist einigermaßen erstaunt darüber, dass ich noch gar nichts zu Essen verlangt habe. Ohne eine kleine Brotzeit schaffe ich es normalerweise nämlich nicht einmal bis zur Stadtgrenze, selbst, wenn wir lediglich zum Einkaufen fahren. Ich beeindrucke sie mit meinem Wissen um den menschlichen Verdauungstrakt, der erst um fünf Uhr morgens seine Tätigkeit aufnehmen würde. Ich hätte also noch mindestens eine Stunde lang keinen Hunger. Mein Magen knurrt böse, als würde er genau verstehen, was für einen Mist ich grade verzapfe.
Ich habe entsetzlichen Kohldampf.
Ein paar Minuten später macht Tina neben mir Geräusche, als würde sie Zwieback essen. Aber sie schläft nur. Wie so oft, macht sie dabei diese kleinen Schnarchgeräusche. Normalerweise unerotisch. Heute praktisch. Ich hole die Zwiebackpackung aus dem Staufach der Tür und mache sie leise auf. Jedes Mal wenn Tina einatmet, sprich schnarcht, beiße ich in einen Zwieback. Das funktioniert ganz gut. Ich rechne mir aus, dass sie bis Mailand schlafen muss, damit ich satt werde. Aber ich werde wohl hungern müssen - sie wacht bereits am Brenner auf und verlangt umgehend nach einer Pause. War wohl ein anstrengender Traum.
„Lassen Sie ihr Herz in Österreich!“, las ich vorhin im Vorbeifahren auf einem Schild. Gute Idee. Ich hab zwar mein Herz schon vergeben, aber etwas anderes könnte ich denen schon dalassen. Also, nächste Ausfahrt raus.
*
Hab’s gelassen, mit dem Dalassen. Ob’s an den vier Tüten Zwieback liegt, die sich in meinem Darm in Serpentinen stauen, wie wir vorhin am Zirlerberg? Nicht mal ein kleines Lüftchen konnte ich hier lassen. Mein Bauch fühlt sich mittlerweile an, wie eine Wäschetrommel vor den Weihnachtsfeiertagen und ich spüre förmlich, dass sich meine übrigen Organe bereits panisch nach einem Notausgang umsehen. Tina schaut mich prüfend an, doch ich strahle weiter Zuversicht aus.
„Du hast doch was, Schatz?“
Mist, die liest in mir doch wie in einem Buch. Jetzt nur nichts anmerken lassen. „Nee, passt schon. Aber diese Toiletten …“ Klingt ja nicht mal in meinen Ohren überzeugend, aber sie ist wohl zu müde, um nachzuhaken. Trotzdem möchte sie die nächste Etappe fahren. Prima, mit offener Hose fahr ich nämlich nicht so gern.
Nach zehn anstrengenden Stunden Fahrt kommen wir endlich in Punta Ala an. Ohne die wunderschöne Natur um uns herum auch nur eines Blickes zu würdigen, weihe ich gleich mal die Toilette unseres Ferienhäuschens ein. Geht aber ganz schnell, weil nämlich auch da nichts geht. Tina schaut mich ein wenig befremdlich an. Ich glaube mein Verhalten wird ihr langsam suspekt. Kann ich verstehen. Geht mir genauso. Ich beschließe, noch einen Tag zu warten, ehe ich zu härteren Mitteln greife. Ach was, ich mach’s gleich!
In unserem gut bestückten Reisemedizinkoffer finde ich ein paar Dinge, die ich zunächst ausprobieren kann. Diese sind in eskalierender Reihenfolge: Nux Vomica Globuli (3 x stündlich im akuten Stadium, dann 5 x täglich), Sab-Simplex-Tropfen (lösen Luftblasen im Verdauungstrakt auf, Erwachsene nehmen zu oder nach jeder Mahlzeit 30-45 Tropfen) und wenn alles nichts hilft, Glycilax-Zäpfchen (sind eigentlich für Kinder bestimmt, die im Fall der Fälle 1 Zäpfchen bekommen; eine Erwachsenendosis ist nicht angegeben). Die Globuli helfen den Kindern eigentlich immer. Mir leider nicht. Parallel nehme ich gleich mal die Sab-Simplex-Tropfen. Die sind super. Kann man praktisch nichts falsch machen. Auch nicht überdosieren, die Wirkung ist rein physikalisch. Steht so in der Gebrauchsanweisung. Also rein mit dem Zeug. Vorsichtshalber nehme ich die dreifache Menge.
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