Samuel zerbricht sich den Kopf, kommt aber auf keine geeignete Rechenformel. Er sucht seine Hosentaschen nach der Münze ab. Er bohrt die Hände tief in die Taschen und durchwühlt sie mit den Fingerspitzen. Schließlich hat er sie gefunden. Gemeinsam mit einem kleinen Zettel zieht er das Geldstück aus der rechten vorderen Tasche hervor. Auf dem Zettel steht die Telefonnummer von zu Hause. Samuel trägt sie immer bei sich. Mama möchte das so, „falls er mal verloren geht“, damit er immer zu Hause anrufen und sich abholen lassen kann. Samuel reißt ein kleines Stück von dem Zettel ab. Neben der Kasse am Tresen hat er einen Kugelschreiber liegen sehen.
Samuel kriecht noch einmal unter der Tür hindurch. An der Kasse ist niemand. Samuel schnappt sich den Kuli und verschwindet damit wieder in der Küche. „Entschuldigung“, schreibt er mit großen Buchstaben auf das Papier. „Ich habe nur noch einen Euro und ich hoffe, das reicht. Samuel.“ Nein, seinen Namen sollte er natürlich nicht hinterlassen. Schnell streicht er Samuel wieder durch und malt stattdessen ein lachendes Mondgesicht.
Samuel hat das Geld und den Zettel gerade abgelegt, da öffnet sich neben ihm die Tür. Samuel springt zur Seite und stellt sich in die Ecke hinter einen hohen Schrank. Nach einer Weile wird er mutiger und wagt sich wieder etwas hervor. Es sind die beiden Männer vom Tresen, die eben hereingekommen sind. Sie machen offenbar eine Pause und haben sich auf Klapphockern neben die Tür gesetzt. Einer der Männer will sich gerade eine Flasche Wasser aus der Kiste greifen. „Was ist das denn hier?“ sagt er. Er hat den Zettel mit dem Geld entdeckt. Samuel erschrickt. „Wie witzig. Und guck' mal hier“, sagt der andere und zeigt auf die Stelle auf dem Zettel, an der Samuel seinen Namen überschmiert hat. Er steht auf, presst seinen rechten Zeigefinger auf die Lippen und deutet seinem Kumpel an, dass der sich ruhig verhalten soll. So wie Samuel es heute Nachmittag bei Bolle gemacht hat. Ach, Bolle. Allmählich wünscht sich Samuel nach Hause und in sein Bett zurück. Doch im Moment geht das nicht.
Während einer der Männer die Küche abschreitet und in und unter jeden noch so kleinen Schrank guckt, hat sich der andere vor die Tür gestellt und Samuel den Fluchtweg versperrt. „Komm, Leo, lass gut sein, der ist sicher längst weg“, sagt der Mann an der Tür zu dem anderen, der noch immer den Raum absucht. Samuel nickt heftig mit dem Kopf und wünscht sich auch, dass Leo seine Suche beendet. Solange er den Mantel an hat, kann Leo Samuel zwar nicht sehen, aber wer weiß, wie lange der Zauber überhaupt noch wirkt. Bei dem Gedanken, der Zauber könnte irgendwann vorüber sein, wird Samuel ganz mulmig.
„Tja, dann ist der Rest Trinkgeld“, sagt Leo schließlich und hört auf, weiter zu suchen. Er nimmt den Euro und geht damit durch die Flügeltür zur Kasse. Trinkgeld, auch das hat Samuel schon einmal gehört. So etwas wie Wechselgeld, nur das man nichts eintauscht und eigentlich auch nichts zurück bekommt, oder so ähnlich? Jedenfalls bekommt das immer der Taxifahrer, wenn er uns zum Bahnhof fährt, oder der Kellner im Restaurant, Mama hat auch schon der Putzfrau Helene Trinkgeld gegeben. Apropos Mama. Samuel hat keine Zeit zu verlieren. Er sollte wieder an den Tisch zurückkehren. Wer weiß, wie spät es schon ist und ob Mama und Papa überhaupt noch dort sitzen.
Tatsächlich, der Tisch ist leer. Aber Mamas Tasche hängt noch über dem Stuhl. Samuel ist beruhigt, dann können sie nicht weit sein. Er läuft rüber zum Tisch, setzt sich auf seinen Stuhl und will gerade die Flasche ansetzen, um endlich seinen Durst zu stillen. Da schleicht hinter ihm ein Mann heran und hat sich mit einer kurzen Handbewegung blitzschnell Mamas Tasche von der Lehne geangelt. Reaktionsschnell streckt Samuel ein Bein unter dem Tisch hervor, der Mann strauchelt und fällt zu Boden. In dem Moment kommen Mama und Papa von der Tanzfläche herübergeeilt. „Meine Tasche, haltet den Dieb, meine Tasche“, ruft Mama ganz aufgeregt. Und sofort stürzen sich zwei Männer auf ihn und drücken den Dieb, der sich gerade aufrappeln will, wieder zu Boden.
Jetzt kommt auch Leo vom Tresen herüber. „Was ist passiert?“ fragt er. Samuel will soeben lossprudeln, schließlich hat er ja alles aus nächster Nähe erlebt. Aber wieder muss er sich zurückhalten. „Das ist unglaublich, der Mann wollte meine Handtasche stehlen. Wir waren tanzen, und ich hatte sie dort über den Stuhl gehängt“, sagt Mama und zeigt auf den Stuhl neben Samuel. „Ich ruf' dann mal die Polizei“, sagt Leo und verschwindet wieder hinter dem Tresen. Das Telefon hängt dort an der Wand, und Samuel beobachtet aus der Ferne wie Leo mit der Polizei telefoniert. Dass der Abend noch so eine spannende Wende nimmt, hätte er nie und nimmer gedacht. „Fünf Minuten, Achim“, ruft Leo einem der Männer zu, die den Taschendieb jetzt einer links, einer rechts fest an den Armen packen. Gleichzeitig zeigt er Achim die flache Hand mit fünf gespreizten Fingern, um zu demonstrieren, wieviel Zeit die Polizei bis zu ihrem Eintreffen noch benötigt. Wohl für den Fall, dass Achim ihn bei dem Lärm nicht hören kann. Achim nickt und die beiden Männer schupsen den Gefangenen quer durch den Raum zum Ausgang.
Schon wieder rüttelt es an Samuels Stuhllehne. Diesmal ist es kein Dieb, sondern Harald, der den Stuhl, auf dem Samuel eben noch saß, mit einem Ruck vom Tisch wegzieht, so dass Samuel zur Seite herunter fällt. Aua, du Grobian, beschwert sich Samuel. Harald ist der Vater von Jakob, einem Mitschüler von Samuel. Was wollen die denn hier? fragt sich Samuel. „Was für eine Aufregung, he?“ Harald setzt sich auf den freien Stuhl und gibt Papa mit dem Ellenbogen einen leichten Stoß. Auch Samuels Eltern haben inzwischen wieder Platz genommen und sich von dem kurzen Schrecken erholt. Mama sortiert ihre Tasche, da durch den Sturz des Diebes fast alles aus der Tasche herausgefallen ist. Jetzt kommt auch Jakobs Mutter, Rosi, an den Tisch. Papa steht auf und holt ihr vom Nachbartisch noch einen weiteren Stuhl. Samuel bleibt fürs Erste unter dem Tisch hocken. „Unglaublich“, sagt Mama. „Habt ihr das mitbekommen?“ Und ob sie haben. Jakobs Mutter ist aufgeregter als sie selbst. „Ja, das gibt es ja wohl gar nicht“, sagt sie, „dass hat es ja in all den Jahren hier noch nicht gegeben. Sowas von dreist.“ Dabei schüttelt sie so heftig ihren Kopf, dass Mama ihre schwarzen langen Haare ständig ins Gesicht bekommt.
Samuel kann Rosi noch weniger leiden, als ihren Sohn, Jakob. Jakob geht mit Samuel in eine Klasse und sitzt direkt hinter ihm. Ständig stört er, weil er nie etwas mitbekommt, weiß aber sonst immer alles besser und ganz genau. So wie sein Vater Harald jetzt, der gerade Samuels Mutter belehrt, wie sie denn die Tasche auch einfach am Stuhl hängen lassen konnte. „Ja, das war sicher dumm“, pflichtet Mama ihm bei und beendet damit ganz geschickt das Gespräch. Das meint Mama wohl immer, wenn sie sagt, „der Klügere gibt nach“. Samuel nimmt sich vor, das auch auszuprobieren, wenn er mal wieder mit Samantha in Streit gerät.
Harald und Papa unterhalten sich jetzt über Fußball, die beiden Frauen sitzen schweigend nebeneinander. „Na, so ein Zufall“, unterbricht Rosi die Stille. „Wir waren seit Jahren nicht hier. Ihr kommt öfter her?“ Mama umklammert noch immer ihre Tasche. „Nein, nein, wir waren eben im Kino. Samantha hatte uns ja zu Weihnachten Karten geschenkt und von dort ist es ja nicht weit.“ Samuel streckt den Kopf unter dem Tisch hervor, um die beiden Frauen etwas besser sehen zu können.
Mama scheint irgendetwas zu suchen. Sie blickt nach links über die Stuhllehne, dann nach rechts. Schließlich unter den Tisch. Samuel zuckt zusammen. Vor ihm liegt ein kleiner roter Lippenstift. Schnell stellt er seinen Fuß darauf, damit Mama ihn nicht entdecken kann. Womöglich greift sie unter den Tisch und kann doch irgendetwas von Samuel ertasten. Samuel nimmt den Lippenstift und legt ihn ganz dicht an Rosis Stuhlbein. Auch Rosi ist inzwischen aufgefallen, dass Mama ganz unruhig ist. „Suchst du etwas?“ fragt sie. „Ja, meinen Lippenstift, er muss mir aus der Tasche gefallen sein“, sagt Mama, ohne Rosi groß Beachtung zu schenken. Rosi rückt mit ihrem Stuhl etwas zurück und entdeckt dabei den Stift, der durch die Bewegung etwas nach vorn gerollt ist. Bravo Samuel, das hast du gut hinbekommen, freut sich Samuel und zieht sich wieder ein Stück unter den Tisch zurück. Im selben Moment beugt sich Rosi herunter. „Ist er das hier“, fragt sie Mama, als sie sich wieder aufgerichtet hat und hält ihr den Lippenstift hin. „Oh ja, danke. Zum Glück. Den hatte mir Samantha für den Abend geborgt“, sagt Mama erleichtert und steckt ihn ein.
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