Das „Bardolino“ befindet sich nur eine Straße weiter, zum Eingang gelangt man durch einen Hinterhof. Ziemlich schaurig hier, findet Samuel. Er ist froh, jetzt nicht allein zu sein. „Danke, du bist süß“, sagt Mama zu Papa, die sich jetzt wieder bei ihm untergehakt hat. Weil er ihrem Wunsch ins „Bardolino“ zu gehen und nicht mit dem Taxi wegzufahren, nachgegeben hat? überlegt Samuel. Oder warum findet Mama, dass Papa süß ist? Samantha findet ihren kleinen Bruder auch süß, hat sie heute Nachmitttag zu Luca gesagt. Samuel weiß nicht, was er davon halten soll. Schokolade ist süß oder Honig, manchmal auch Babys, aber er und Papa?
Samuel bleibt jetzt ganz eng an der Seite seiner Eltern. So ganz wohl ist ihm immer noch nicht. Es ist ziemlich dunkel. Der Weg von der Straße zum Hinterhof führt durch einen langen Gang. An der Decke sind nur zwei kleine Lampen angebracht, die nur wenig Licht geben. In einer Ecke hat sich ein alter bärtiger Mann in eine löchrige Decke gehüllt und zündet sich gerade mit einem Feuerzeug einen Zigarettenstummel an. Er versucht es zumindest. Seine Hände zittern und immer wieder bläst der Wind das kleine Lichtchen aus. Irgendwie gruselig, findet Samuel.
Vor der Tür des Lokals stehen ein Mann und eine Frau und schreien sich an. „Musst du mir hier solch eine Szene machen“, schimpft der Mann. „vor all den Leuten?“ „Wer spielt denn hier das Theater“, erwidert die Frau und stößt dem Mann mit den Händen gegen die Brust. „Von wegen Arbeit!“ brüllt sie. Samuels Eltern schauen sich belustigt an. Samuel findet das gar nicht lustig und versteht die Brüllerei auch gar nicht. Der Mann hat inzwischen die Türklinke in die Hand genommen und will gerade zurück ins Lokal gehen. Weil ihn die Frau am Arm zurückhält, kann Samuel schnell durch den Türspalt hindurchhuschen.
„Dürfen wir mal bitte?“, hört er Papa draußen zu dem Mann sagen. „Ja, klar.“ Der Mann reißt die Tür weit auf und lässt Samuels Eltern hindurch. Dann kommt er hinterher und plauzt sie von innen zu. Samuel beobachtet, wie der Mann sich zu einer blonden jungen Frau an den Tisch setzt, die sich gerade einen kleinen runden Spiegel vors Gesicht hält und irgendetwas aus den Augen zu wischen scheint. Sie ist hübsch, findet Samuel, was er von dem Mann nicht unbedingt sagen kann. Der hat so eine komische, dicke Brille auf, die das halbe Gesicht überdeckt und für Samuels Geschmack um einiges zu groß geraten ist. Außerdem ist er bestimmt viele Jahre älter. Samuel schaut sich seinen Papa an und ist ziemlich stolz. Mit seinen Eltern hat er richtig Glück gehabt, denkt er. Aber wo sind die jetzt überhaupt? Samuel war so mit dem fremden Mann beschäftigt, dass er seine Eltern aus den Augen verloren hat.
Das Lokal ist ziemlich voll. In der Mitte ist eine große Tanzfläche, auf der sich die Leute ganz dicht drängen und kaum bewegen können. Drumherum stehen auch lauter Menschen, halten Gläser oder Flaschen in den Händen, unterhalten sich oder wackeln wie die auf der Tanzfläche mit dem Körper hin und her. Die Musik ist viel zu laut, findet Samuel, der noch nicht bemerkt hat, dass er direkt neben einem Lautsprecher steht. Samuel versucht, von den Lippen zu lesen, weil er kein Wort versteht, von dem was die Erwachsenen erzählen. Viel Erfolg hat er damit aber auch nicht. Samuel sucht den Raum nach seinen Eltern ab. Da, rechts hinter der Tanzfläche setzen sie sich gerade an einen kleinen runden Tisch. Samuel zwängt sich durch die Tanzenden hindurch. Zum Glück ist noch ein dritter Stuhl an dem Tisch frei. Da seine Eltern gerade damit beschäftigt sind, sich auszuziehen, kann Samuel den Stuhl unbemerkt etwas vom Tisch rücken, um sich setzen zu können. Geschafft.
Papa hilft Mama aus dem Mantel und hängt die Sachen an einen Haken an der Wand hinter dem Tisch. Mama setzt sich und blättert in der Karte, die auf dem Tisch liegt. „Trinkst du auch ein Glas Wein mit?“ fragt sie Papa. Nee, Papa doch nicht, denkt Samuel, der trinkt doch nie Wein. Zu Samuels Überraschung will er aber doch. Die Kellnerin kommt gerade an den Tisch und Samuels Eltern geben die Bestellung auf. Als sie sich zum Gehen wendet, will Samuel protestieren, weil er gar nicht gefragt worden ist. Er hat schon wieder vergessen, dass er ja eigentlich gar nicht da ist. Unsichtbar zu sein, ist doch auch ziemlich anstrengend, findet er.
Samuel hat auch Durst. Die Luft hier drin ist total trocken und es ist extrem heiß. Unter dem Zaubermantel hat Samuel noch immer seine Jacke an. Aber die kann er ja jetzt unmöglich ausziehen und an den Haken hängen. Er hält nach der Kellnerin Ausschau und beobachtet, wo sie die Getränke holt. Die Frau steht an einem langen Tisch, hinter dem zwei junge Männer Getränke aus großen Automaten in die Gläser füllen. Samuel weiß, dass man den langen Tisch Tresen und die Automaten Zapfanlagen nennt. Das hat ihm Kalle, Papas bester Kumpel erklärt. Mit dem geht Papa auch immer „Bier trinken.“ Mama mag Kalle nicht, weil der immer so blöde Witze macht und Papa so spät nach Hause kommt, wenn er mit ihm weg war. Manchmal bleibt Kalle dann über Nacht und schläft auf der Couch im Wohnzimmer. Wenn Kalle zuviel getrunken hat, fängt er an zu singen und zu tanzen und macht lauter Blödsinn. Papa benimmt sich nicht so und trinkt zu Hause auch nur Wasser oder Saft, manchmal auch Cola. Mama hat mal erzählt, das sei aber erst so, seitdem er Kinder hat. Auch wenn Samuel Kalle gut leiden mag, so wie er will er mal nicht werden. Trotzdem kann man auch immer was von ihm lernen. Etwa, dass ein Tresen Tresen und eine Zapfanlage Zapfanlage heißt.
Irgendetwas rüttelt plötzlich an Samuels Stuhl. Samuel fährt erschrocken hoch. Er hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt und war für ein paar Minuten eingeschlafen. Eine Frau ist im Vorbeigehen mit der Tasche an seinem Stuhl hängengeblieben. Wo sind Mama und Papa? Ah, alles gut. Beide sitzen noch am Tisch und beobachten die Leute auf der Tanzfläche.
Jetzt wäre Gelegenheit, sich so eine Zapfanlage mal aus der Nähe anzusehen, sagt sich Samuel. Er geht hinüber und stellt sich zu den beiden Männern hinter den Tresen. Der ist so hoch, dass Samuel kaum drüber hinweggucken kann. Samuel stellt sich auf Zehenspitzen und kann in der Ecke gegenüber seine Eltern am Tisch sitzen sehen. Die Kellnerin serviert gerade den Wein. Samuel kann sich also getrost den Männern hinter dem Tresen zuwenden, die gerade einen nach dem anderen Hebel an dem Automaten betätigen und aus dünnen Schläuchen Bier in große Gläser laufen lassen. Was für eine Sauerei, denkt Samuel. Dicker Schaum läuft über die Gläser und tropft entlang des Automaten vom Tresenrand auf den Boden. Und es stinkt erbärmlich. Und klebt. Samuel war nicht aufgefallen, dass er sich in eine Bier-Pfütze gestellt hat und bleibt nun bei jedem Schritt am Boden haften.
Samuel hat noch immer großen Durst. Bier kann er natürlich nicht trinken, das weiß er. Er sucht mit den Augen das Regal hinter dem Tresen ab. Da stehen lauter Gläser und in den oberen Reihen viele Flaschen Wein und Schnaps. Einer der Männer, die am Tresen arbeiten, bückt sich und öffnet gerade unter dem Tresen eine Tür. Aha, da sind die alkoholfreien Getränke also versteckt, denkt Samuel. Hinter der Tür hat er jede Menge Cola, Wasser, Saft, Dosen mit Eiswürfeln und ein Netz Zitronen entdeckt. Aber wie da dran kommen? Die beiden Männer, die hinter dem Tresen arbeiten, stehen unmittelbar vor dem Kühlschrank und schenken weiter Bier aus.
Samuel mus weiter suchen. Seitlich neben dem Tresen führt eine kleine Flügeltür zur Küche. Man kann sowohl oben drüber gucken, als auch unten durchkriechen. Samuel entscheidet sich fürs Durchkriechen. Die ist ja wie für ihn gemacht, freut er sich. Gleich neben der Tür steht eine Getränkekiste mit Sprudelwasser. Na, welch ein glücklicher Zufall, denkt Samuel und zieht eine Flasche heraus. Dann hält er kurz inne. Wenn er die Flasche jetzt nimmt, dann wäre das Diebstahl. Das geht auf gar keinen Fall. Irgendwo in der Tasche muss er noch einen Euro haben. Ob das wohl reicht? Samuel weiß nicht, was eine Flasche Wasser kostet. Sein Taschengeld ist höher als ein Euro und Wasser hat er sich davon noch nicht gekauft.
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