Was hätte ich dafür gegeben, wieder meine Augen nutzen zu können. Ein anderes Bild als letzte Erinnerung zu haben als die beiden Kanäle von Lilith, die mein heimtückisches Säureattentat überlebt hatten. Die Oktagone. Kanal Fünf und Kanal Sechs. Als ich auf der Bühne das Bewusstsein verloren hatte, überschüttet von Ritas zerberstendem Körper, hatten mich die schwarzen Löcher angestarrt wie die vorwurfsvollen Augen einer betrogenen Frau, wie der Inbegriff enttäuschter Liebe.
Waren wir uns jemals näher, Lilith und ich? Früher teilten wir die Musik. Jetzt das Los von Betrug und Verkrüppelung.
Töne erklangen. Kaum hörbar, sanft, aber dennoch eindringlich. Wahrscheinlich die einzigen, die Lilith mit den beiden Oktagonen und dem winzigen Luftzug aus der Entlüftungsanlage spielen konnte. Klagend. Eine Melodie, die ich so gut kannte wie keine zweite.
Wieder und wieder hatte ich diese Passage als Kind geübt, um mir das Bending beizubringen, das Beugen eines gezogenen Tons um einen Halbton durch Senken der Zunge im Mundraum.
Kanal Sechs ziehen. Kanal Fünf ziehen. Kanal Sechs ziehen mit Bending des Tons. Kanal Sechs ziehen.
Hätte ich meine Ohren nur schließen können. Die ganze Nacht spielte sie diese Melodie. Immer nur diese.
Die prägnanten zwei Takte aus dem Lied vom Tod.
Ich wollte ja gerne. Doch Lilith ließ mich nicht sterben.
Wie viele Jahre seit jenem Tag vergingen, weiß ich nicht. Ich habe jedes Gefühl für Zeit verloren. Irgendjemand hat mir irgendwann erzählt, Doc Holzmann und Rudi seien verstorben. Ich hörte die Worte, doch sie weckten keine Emotionen mehr in mir. Seither hat mich niemand mehr besucht, und ich vegetiere wie in einer fensterlosen Abstellkammer vor mich hin.
Können sie sich vorstellen, wie das ist, bewegungsunfähig und eingekerkert im eigenen Körper, und immer nur vier Töne zu hören? Ausgerechnet diese vier Töne?
Lilith. Oh wie ich sie hasse.
Oh wie ich sie liebe.
Wolfgang Rauh – Die Alptraum-Beule
1
Ende Mai – diesjährig Beginn der Kurze-Hosen-Zeit – segelte mein Leben aus dem bequemen Binnengewässer der Durchschnittlichkeit hinaus und erlitt irgendwo in dem Meer bizarrer Ereignisse, die folgten, Schiffbruch. Nachträglich ist es verwunderlich wie lange ich mich gegen die Erkenntnis wehren konnte, dass etwas nicht stimmte. Allerdings ist die Geschichte, die Sie gleich hören werden, bis zum Anschlag verstörend – wenn ein gesunder Verstand da die Schotten dicht macht, darf man ihm keinen Vorwurf machen.
Aber von vorn. Es begann mit einem Jucken, knapp unterhalb des Knies. Zuerst war gar nichts zu sehen, dann wurde die Stelle rot, irgendwann schwoll sie an und schließlich … aber dazu kommen wir noch.
In meinem Schlafzimmer stand ein ausladender Spiegel – groß genug um sich als ausgewachsener Mann darin vom Scheitel bis zur Sohle betrachten zu können. Ich gaffte mich darin jeden Tag an! Morgens und abends! Jetzt fragen Sie sich vielleicht, wie man so selbstverliebt und auch noch stolz drauf sein kann, aber so war es nicht. Ich hatte gerade eine schwere Trennung hinter mir, und die täglichen Sitzungen mit meinem Spiegelbild waren eine Art Meditation, die mein zerstörtes Selbstwertgefühl wieder aufpäppeln sollten.
Fakt ist: Ich hätte die Möglichkeit gehabt, zu sehen was da unter meinem Knie wucherte, wenn ich von meinem Gesicht nicht so abgelenkt gewesen wäre. Als ich Anfang Juni dann mit dümmlich gaffender Miene vor meinem Schrankspiegel stand, war der einzige, klare Gedanke, an den ich mich erinnere, dass ich dieses Jahr wohl nicht viel Zeit im Freibad verbringen würde. Zumindest nicht in kurzen Hosen.
2
„Das ist ein Auge.“ Bernd, ein Bekannter aus Kindertagen, der nach der Trennung von meiner Verlobten aus unerfindlichen Gründen zu meinem gesamten sozialen Umfeld geworden war, nannte Dinge gerne beim Namen und hob Offensichtliches auch dann hervor, wenn niemand danach fragte.
„Vielen Dank“, antwortete ich. „Gut, dass du gekommen bist, ich war mir da nicht ganz sicher.“ Natürlich war ich mir sicher. Ein verdammtes Auge wölbte sich unterhalb meines Knies aus dem Schienbein und betrachtete mit der ungetrübten Aufmerksamkeit eines Kleinkinds seine Umgebung. Es gab an der ganzen Sache nichts, bei dem man sich hätte nicht sicher sein können
Abgesehen von Bernds messerscharfer Folge-Deduktion: „Das gehört da nicht hin.“
Kennen Sie das, wenn man Freunde gerne ohrfeigen möchte, weil sie nicht die Hilfe sind, die man vorher in sie hineininterpretierte? Wäre ich ein gewalttätiger Mensch, ich hätte Bernd in diesem Moment auseinandergerissen wie ein Stück faules Obst.
„Siehst du etwas damit?“ Er wedelte vor meinem neuen Auge herum.
„Lass das.“
Ich sah nichts mit dem zusätzlichen Auge. Ob das meine Lage besser oder schlechter machte, wusste ich nicht. Es war eindeutig lebendig, und wenn ich mein Bein entsprechend verdrehte, konnten wir uns gegenseitig in die Pupillen starren. Was wir auch taten. Und ja, das war genauso verstörend, wie es sich anhört.
Ich hatte mir moralische Unterstützung von Bernd erwartet. Irgendwas in der Richtung von: Ach, davon hab ich schon gehört. Ist ein Virus, geht grad um. Haben alle erfolglosen Singles.
Klingt dämlich, ich weiß. Wären Sie mit einem dritten Auge einfach zum Arzt gegangen, ohne zuerst mit engsten Vertrauten zu sprechen?
Bernd nippte an seinem Kaffee, ohne den organischen Albtraum unter meinem Knie aus den Augen zu lassen, und dabei sah er aus wie ein schlecht besetzter Filmbösewicht, der etwas ausheckt. Ich weiß noch, dass ich begann, mich wie ein Stück Fleisch zu fühlen, und augenblicklich taten mir die Tänzerinnen in den Lokalen leid, in die mich die Zeit nach der Trennung manchmal geführt hatte. In den Gentleman-Clubs, in die keine Gentlemen gingen.
Bernd stellte die Tasse ab, kniete sich vor mich und brachte sein Gesicht ganz nah an das Auge da unten.
„Siehst du mich?“, fragte er.
„Ja“, antwortete ich.
„Nicht du, das da.“
„Es hat keinen Mund, wie soll es dir da antworten?“
Das leuchtete selbst Bernd ein. „Vielleicht kommt ja noch einer“, meinte er trocken.
Ich lachte auf – extra gekünstelt, damit selbst er merkte, dass es nicht lustig war.
Er stand auf, aber statt sich wieder hinzusetzen, beugte er sich über mich.
Überrascht – und ein wenig geschockt – wich ich zurück, weil ich dachte, Bernd hätte in mein Single-Dasein irgendwelche Signale hineininterpretiert, die definitiv nicht mitgesandt worden waren. Er wollte mich nicht küssen. Er verglich die Augen.
„Es hat eine andere Farbe“, sagte er, deutete dabei auf mein Knie und setzte sich wieder.
„Echt?“ Tatsächlich – und das meine ich völlig frei von Sarkasmus – war mir das nicht aufgefallen.
„Jap. Grün. Deine sind blau. Also, deine anderen.“
Für ein paar Atemzüge schwiegen wir.
„Macht es das jetzt besser oder schlechter?“, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht.“
3
Als Bernd ging, sah er etwas blass aus. Typen wie ihm steht Blässe, insofern hielt sich mein schlechtes Gewissen da in Grenzen.
Ich zwang Bernd, mir zu versprechen, dass er die Klappe hielt. Mit Leuten wie ihm war das nicht so einfach. Man sagte nicht bitte und empfing freudig sein kein Problem . Mit Bernd war so was immer ein Eiertanz. Schlussendlich hatte ich sein Versprechen und meine Hoffnung, dass er sich dran halten würde.
Ich stand wieder mal vor dem Spiegel und begaffte das Auge unterm Knie. Es gaffte zurück.
Ich fühlte mich unhöflich, können Sie sich das vorstellen? In etwa so, wie wenn man mit jemand Fremdem allein im Raum ist und sich nicht vorstellt.
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