Stroh schrie vor Schmerz. Die Pranke glitt wieder zurück in den Tisch und zog den Mann, der sich vergeblich wehrte, mit sich. Fingernägel brachen. Stück für Stück wurde er hineingezogen, bis seine Füße zappelnd in dem Schlund verschwanden.
Pascal hörte auf zu spielen und der Abgrund löste sich auf, bis nur noch der Tisch zu sehen war. Zufrieden legte er die Geige in den Koffer, schloss ihn.
„Das war mein Lieblingsstück“, sagte Pascal und zwinkerte Lili zu. Er formte mit seinen Lippen ein O. „Du hängst da ja immer noch. Lass mich dir helfen.“ Er ruckelte an der Gabel. Lili jaulte vor Schmerzen. Pascal löste sie und Lili krümmte sich auf dem Boden. Zitternd betrachtete sie ihre verletzte Hand.
Pascal gabelte ein Stück Kuchen auf und hielt ihn Lili vor die Nase. „Möchtest du noch einen Happen, Lili? Es wäre doch zu Schade drum.“ Lili schüttelte nur den Kopf und kniff die Augen zusammen. Tränen liefen über ihre Wangen.
„Ein Jammer“, seufzte Pascal. „Dann hast du jetzt Feierabend.“ Er rammte ihr die Gabel samt Kuchenstück ins schreckensweite Auge, es platzte und er stieß sie ihr tief ins Gehirn.
Behutsam legte Pascal die Geige zurück in den Koffer und strich über den Korpus. Das Glöckchen an der Tür verabschiedete Pascal mit einem Klingeln.
„Die Ursache? Dein missratenes Zungen-Tattoo.“
Ich atmete auf. Endlich eine klare, ungeschönte Ansage, auch wenn mir die inhaltliche Botschaft missfiel. Lobhudelnde Marketingmenschen, die mir auf der Jagd nach Verträgen Honig ums Maul schmierten, und schmachtende Groupies, die mich mit falschen Komplimenten ins Bett locken wollten, schwirrten mehr als genug um mich herum. Ich wollte eine ehrliche Diagnose von einem Menschen, dem ich vertraute.
Ich bekam sie.
„Beim Stechen hat der Tätowierer eine Farbsubstanz mit Parabenen verwandt, auf die dein Körper mit einer Entzündung im Mundraum reagierte“, fuhr Doc Holzmann ungerührt fort. „Trotzdem wäre nichts Gravierendes geschehen, hättest du dich an die Vorgaben des Verhaltensmerkblatts gehalten und in den Folgewochen auf Rauchen und Alkohol verzichtet. So hast du die fatale Infektion geradezu eingeladen, die letztlich zur Lähmung führte.“
Wie stehen meine Chancen auf Heilung? Werde ich wieder Harp spielen können? , tippte ich meine drängendsten Fragen ins Tablet, das notgedrungen zu meinem zentralen Kommunikationsinstrument geworden war.
„Der Nerv ist quasi zerfetzt, eine vollständige Regeneration schließe ich aus. Du wirst nach langem Training vielleicht wieder halbwegs verständlich sprechen können. Das war´s dann aber auch.“ Der Doc fixierte mich. „Was du zu tun hast, um das Mögliche herauszuholen, weißt du; die Therapie hat sich seit damals nicht geändert.“
Doc Holzmann schlug die abgegriffene Ledermappe auf, die er auf der rechten Seite seines Eichenschreibtisches platziert hatte. Immer noch dieselbe wir vor fünfzehn Jahren, erkannte ich. Die dargestellten Übungen hatten sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Als Zweitklässler hatte ich sie bis zum Erbrechen praktiziert, um die Störung des Gleichgewichts der Muskeln von Zunge und Mundraum zu beseitigen, die mich zu einem stammelnden Idioten degradiert hatte. Glossoplegie. Sperriges Fremdwort für mein traumatisches Kindheitsleiden. Nun holte es mich ein.
Damals hatte ich den Kampf gegen die Lähmung gewonnen. Und weit mehr als das. Nie werde ich den Moment vergessen, als mir der Doc zur Belohnung für die erzielten Fortschritte in diesem Zimmer meine erste Blues-Harp überreichte. Voller Stolz blies ich hinein, sog, tastete mit meiner befreiten Zunge die Löcher ab und badete genüsslich in den schrägen Tönen, die ich schon nach wenigen Sekunden erzeugen konnte. Für mich klangen sie wie eine Fanfare des Triumphs.
Dieser Moment legte den Grundstein für meine Verbindung mit der Harp. Kein Tag verging, an dem ich nicht mit ihr spielte. Meine Zunge wurde durch das tägliche Üben und die Mundraum-Akrobatik, die die verschiedenen Harp-Techniken wie Bending und Overblow erforderten, von meinem Schwachpunkt zu meinem geschmeidigsten und austrainiertesten Muskel.
Die Harp öffnete mir den Zugang zur Musik. „Ein Talent für dämonische Klänge“, attestierte mir Rita, die stadtbekannte Rockröhre und Gothic Bride, schon als sie mich das erste Mal im Friedhofspark hörte, wo sie im Sommer nachts gern flanierte und ich mich ab und an beim Üben austobte.
Rita war perfekt für mich. Sie lobte, tadelte, gab meinen musikalischen Gehversuchen ein Ziel und gründete mit mir schon nach wenigen Wochen die Death Rock Angels . Motiviert durch ihr Vertrauen sprengte ich alle Grenzen. Konsequent entriss ich die Harp dem Ghetto von Mundorgel und Blues-Schema und kreierte den mystery style. Ich ließ die Harp wimmern, kreischen und flehen, untermalt von Ritas kraftvollem Gesang, der Banalitäten wie Schlagzeug und Bass mühelos ersetzte. Wir schlugen ein wie eine Bombe. Schon unser erstes YouTube-Video erreichte sechsstellige Download-Zahlen, und binnen weniger Wochen hatten wir in der Szene eine hohe Popularität erreicht. Unaufhaltsam, so schien es uns, bahnten wir uns den Weg in die Spitze der Charts, und nun, gerade ein Jahr später, planten wir voller Vorfreude unsere erste große Tour.
Ein Weg, von dem wir abzurutschen drohten. Verendete unsere musikalische Karriere in dem Raum, in dem sie begann? In diesem logopädischen Behandlungszimmer? Musste ich, der Tongue Wizard, wieder Seifenblasen formen, Pusteblumen entblättern und Ansaugspielchen mit Zitronenlimonade und Strohhalm treiben, um wenigstens sprechen zu lernen? Für den Rest des Lebens auf das Harp-Spiel verzichten? Urplötzlich schwemmte Angst in mir hoch. Ich wollte allein sein. Wortlos erhob ich mich und wankte aus dem Behandlungszimmer.
Der verendende Novembertag tunkte das Teufelsmoor in neblige Feuchtigkeit. Ich bog auf den Trampelpfad zu dem abgelegenen Bauernhaus, das ich mit Rita zu Heim und Tonstudio umgebaut hatte. Adrenalin schwemmte durch meinen Körper. Meine Gedanken rasten schneller als ich laufen konnte. Rita hatte meinen Besuch bei Doc Holzmann genutzt, um bei Rudi, unserem Konzert-Guru, vorbeizuschauen und ihn über meinen Zustand zu informieren. Eigentlich sollte die Tour nächste Woche beginnen. Realistischerweise mussten wir sie wohl canceln, denn wer sollte meinen Part übernehmen? Kein Konzert würde ohne meine Harp funktionieren. Unsere Fans würden uns buchstäblich in der Luft zerreißen, würde ich schlecht spielen oder gar vollständig ausfallen.
In diesen düsteren Gedanken versunken näherte ich mich der Rotbuche, in deren Schatten ich früher so gerne einen Zwischenstopp eingelegt hatte. Ihr Wuchs erinnerte Rita an das Symbol von Lilith, der sumerischen Winddämonin, hatte sie mir einmal erzählt, und im Okkultismus kannte Rita sich aus wie keine zweite. Kerzengerade schraubte sich der Baum zehn Meter empor und spreizte seinen Stamm kurz vor dem Gipfel in zwei breite Äste mit dünnen Zweigen. Irgendwie wirkte das galgenähnliche Gewächs völlig deplatziert in dieser biederen niedersächsischen Landschaft.
Rita behauptete später, nicht ich hätte Lilith gefunden, sondern sie hätte mich gerufen. Mittlerweile glaube ich, dass sie recht hatte. Wie hätte ich den Handflächen breiten schwarzen Körper auch sehen können, tief unter Laub im Schatten der Rotbuche verborgen? Welche Eingebung hätte mich dazu bewegen können, mich zu bücken und die braunen Blätter zur Seite zu schieben? Ein Glitzern, ein Funkeln, eine Lichtreflexion konnte es nicht gewesen sein. Die tiefschwarze Außenhülle, die ich plötzlich in den Händen hielt, saugte jede Helligkeit auf, die die Dämmerung in Richtung des Bodens sandte.
Irritiert drehte ich das seltsame Ding. Federleicht und trotz seiner Starre auf seltsame Art geschmeidig schien es sich an meine Handballen zu schmiegen, als suchte es körperliche Nähe. Und warm fühlte es sich an. Die Form erinnerte mich frappierend an eine Blues-Harp, mit Kanälen auf der einen und zwei parallelen Schlitzen auf der anderen Seite. Wobei die Kanäle nicht aus Rechtecken bestanden wie bei allen Harps, die ich kannte, sondern aus diversen geometrischen Formen. An den Rändern erkannte ich Kreise, dann folgten nach innen Ellipsen, Dreiecke und Rechtecke und in der Mitte zwei Oktagone wie die Krönung einer logischen geometrischen Reihe.
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