Hielt ich eine skurrile Laune der Natur in der Hand? Das spielerische Schnitzwerk eines gelangweilten Hobby-Handwerkers? Eine experimentelle Harp, einen musikalischen Erlkönig, der den Praxistest nicht bestanden hatte und von seinem Konstrukteur hier am Wegesrand entsorgt worden war? Es bestand aus organischem Material, dessen war ich mir sicher, allerdings aus keiner Holzart, die ich kannte, und ich vermochte kein Metall auszumachen, keine Nieten und keine Schrauben, die Einzelteile miteinander verbanden. Wenn es eine Harp war, wie hätten Kanzellenkörper, Stimmplatten, Stimmzungen und Deckel den Weg ins Innere finden können? Woher bezog es seine Wärme? Warum fühlte es sich trotz seiner festen Hülle so geschmeidig an, fast so als ob es … lebte?
Meine Neugier war geweckt, und außerdem konnte ich Ablenkung gebrauchen. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, versuchsweise hineinzublasen, doch da ich nicht wusste, welche heimtückischen Mikroorganismen sich im Inneren dieses Gebildes angesiedelt haben mochten, beschloss ich, es mitzunehmen und zu säubern, bevor ich es an meine Lippen setzte.
Rita würde erst am Folgetag zurückkehren, und so blieb mir der komplette Abend, mich mit meinem Fund zu beschäftigen. Ich beschloss, ihn als Harp zu behandeln und zu taufen, wie ich es mit allen meinen Instrumenten tat.
Welche Bezeichnung würde passen? Ich dachte an den Fundort, an Ritas Assoziation des Baumes mit der sumerischen Winddämonin, und die Entscheidung war gefallen. So schenkte ich Lilith ihren Namen.
Mit einer Flasche schottischen Whiskys in der einen und meiner frischbenannten Lilith in der anderen Hand begab ich mich auf mein Zimmer und bereitete die rituelle Reinigung vor, die ich allen meinen Harps angedeihen ließ, bevor ich mit ihnen übte. Vorsichtig füllte ich den kleinen historischen Kristallkelch mit der Keilschrift, den uns unser Label anlässlich unserer ersten Platin-Auszeichnung geschenkt hatte, zu einem Drittel mit der goldbraunen Flüssigkeit und legte Lilith hinein. Wie erwartet schwamm der leichte Körper auf dem hochprozentigen Alkohol. Immer wieder an der Flasche mit dem Restalkohol nippend setzte ich mich in meinen Ergo-Sessel und beobachtete Lilith wie einen Goldfisch in einem Aquarium.
Ich langte ordentlich zu. Als ich die Flasche zu zwei Dritteln geleert hatte, zeigte der Alkohol die erhoffte Wirkung. Mir war so ziemlich alles egal, und ich konnte meinen Sinnen nicht mehr trauen. Üblicherweise suchten mich in diesen Momenten Ideen heim, Visionen von Klangbildern, die ich oft genug in Stücke für die Angels umzusetzen vermochte.
Dieses Mal musste ich auf eine derartige Inspiration verzichten und mit banaleren Sinneseindrücken vorlieb nehmen. Langsam begann sich das Zimmer zu drehen. Das kannte ich. Neu war, dass sich auch Lilith aktiv in ihrem Glas bewegte, irgendwie rhythmisch, auf seltsame Art geschmeidig, verführerisch wie ein Frauenkörper. Dann sank sie nieder, gemeinsam mit dem Whisky-Pegel. Interessiert beugte ich mich vor. Wohin verschwand der Alkohol? Absorbierte, inhalierte, trank sie das Zeug? Wenn ja, vollbrachte sie dies in einem bewundernswerten Tempo. Nach wenigen Sekunden lag Lilith auf dem Boden, umrahmt nur von einer winzigen Pfütze in der Rille am Rand, die sie mit ihrem Korpus nicht erreichte.
Wenn sie Durst hat, kann ich sie nicht leiden lassen, dachte ich mitfühlend und füllte nach. Wieder senkte sich der Flüssigkeitspegel, doch diese Mal stagnierte er, bevor Lilith den Boden erreichte. Jetzt hat sie wohl genug, erkannte ich amüsiert und hob sie vorsichtig aus dem Glas. Lilith fühlte sich erstaunlich trocken an, schoss es durch mein beschwingtes Hirn, und ihre zehn Öffnungen glitzerten verführerisch wie Ritas Lippen in einer Vollmondnacht. Vorsichtig klopfte ich den Korpus aus. Kein Tropfen fiel auf den hellbraunen Parkettboden. Ich hatte es aufgegeben, mich zu wundern, und führte Lilith an meinen Mund.
Nun wurde es ernst. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, trotz meiner Trunkenheit und der gelähmten Zunge einen wahrnehmbaren Luftzug in Lilith zu befördern. Was konnte mein geschwächter Mundraum leisten? Welche Antwort würde mir der schwarze Korpus geben? Verbarg sich wirklich eine Harp in meinem seltsamen Fund?
Ich wollte blasen und hielt doch inne. Mir war, als tasteten kleine Zungen durch meinen Rachen, schlichen die Innenseite meiner Wange entlang, tänzelten über meine Zungenspitze. Dort hatte ich seit dem verhängnisvollen Tattoo nichts mehr gespürt, dachte ich verwundert. Es fühlte sich gut an. Ich ließ geschehen, was immer Lilith gerade mit mir anstellte. Schauer auf Schauer lief durch meinen Körper, als sich der aufgestaute Druck in meinem Mund löste. Mehr und mehr entspannte ich mich, als eine halb zärtliche, halb fordernde Kraft langsam aber stetig die Fesseln der Lähmung lockerte.
Dann, ohne dass ich mir einer Aktion meinerseits bewusst war, hörte ich die ersten Töne. Hatte ich sie erzeugt, instinktiv in Lilith hineingeblasen, oder raubte sie mir den Atem ohne mein Zutun aus meiner Lunge? Eine sprunghafte Melodie füllte den Raum, einer Struktur folgend, die selbst ich nicht kannte. Nicht europäisch, nicht afrikanisch, nicht asiatisch und doch seltsam vertraut. Mein Rachen reagierte. Wie ein Irrwisch tanzte meine Zungenspitze über Liliths Öffnungen und produzierte Tonsprünge in Umfang und Tempo, die ich mir auch vor der Lähmung niemals zugetraut hätte. Nahtlos folgte das nächste Stück, noch melancholischer, noch düsterer als sein Vorgänger.
Spielte ich mit Lilith?
Spielte Lilith mit mir?
Die Rhythmen und Melodien, die wir erzeugten, zogen mich in ihren Bann. Wir agierten ohne Pause, spielten erst Liliths Stücke, dann das ganze Repertoire der Angels . Wir variierten. Wir veredelten.
Irgendwann, es muss weit nach Mitternacht gewesen sein, versank ich in einen schweren, traumlosen Schlaf.
„Hast du die ganz allein ausgetrunken?“ Ich riss die Augen auf. Rita, die mich mit dieser Frage geweckt hatte, deutete auf die geleerte Whiskyflasche.
Ich zuckte mit den Schultern. Meine Erinnerung an meine Session mit Lilith und mein kaum vorhandener Kopfschmerz sprachen dagegen. Aber konnte das, was ich erlebt zu haben glaubte, Realität gewesen sein? Mühsam versuchte ich, mich zu orientieren. Ich lag im Sessel in meinem Zimmer, fühlte Taubheit in meinem Mund und hielt ein schwarzes, harpähnliches Etwas in der Hand. Zumindest das passte. Was hatte ich geträumt? Was war wirklich geschehen? Wenn mir jemand bei der Deutung meiner Erinnerungen helfen konnte, dann Rita, die mich besser kannte als den Inhalt ihrer Handtasche.
Eine Stunde später, bei Marmeladentoast und einem Becher Espresso, hatte ich ihr via Tablet alles mitgeteilt, an das ich mich zu erinnern glaubte. Belustigt blickte Rita auf meinen Fund. „Sieht wirklich skurril aus, das Teil. Und Kompliment für deinen wilden Traum; so etwas hätte ich auch gerne. Hast du das Ding wirklich nach der sumerischen Winddämonin benannt?“ Ich nickte.
Rita wurde ernst. „Mit deiner geheimnisvollen Lilith können wir uns später noch beschäftigen, Anderes ist wichtiger. Deine Diagnose tut mir sehr leid; hoffentlich wird es nicht so schlimm wie es jetzt aussieht. Wenn Doc Holzmann recht hat und die Zunge mindestens bis auf weiteres gelähmt bleibt, müssen wir so schnell wie möglich die Tour absagen. Rudi habe ich gestern schon über dieses Szenario informiert. Der bekommt das hin, hat aber darauf hingewiesen, dass die Absage eine Menge Geld kosten und unseren Ruf ramponieren würde. Du bist dir sicher, dass du nicht spielen kannst?“
Die Taubheit in meinem Mund gab eine eindeutige Antwort. Ich schwöre, ich wollte nicken. Was veranlasste mich dazu, den Kopf zu schütteln? Zu Lilith zu greifen und sie an meine Lippen zu setzen? Voller Vorfreude, fast begierig den Mund zu öffnen? Warum war ich nicht überrascht, als ich wieder kleine, zungenähnliche Glieder in meinen Mund hineinkriechen fühlte, die Rachen und Zunge betasteten, massierten und binnen weniger Sekunden die Lähmung beseitigten?
Читать дальше