»Das ist erbärmlich, Jules, selbst für deine Verhältnisse«, fuhr Jamie sie an, doch das interessierte mich nicht. Hastig wischte ich mir die Tränen aus den Augen und verschwand im Schulgebäude auf dem Mädchenklo.
Jules erneuter Angriff sorgte dafür, dass ich noch ruhiger wurde und mich mehr und mehr zurückzog. In der Pause blieb ich im Zimmer, statt draußen die Frühjahrssonne zu genießen. Ich wollte einfach nur meine Ruhe haben und nicht den ständigen Beleidigungen meiner Mitschüler ausgesetzt sein.
Die Woche neigte sich dem Ende und ich konnte das Wochenende kaum erwarten. Meine Eltern hatten spontan einen Kurzurlaub nach Schottland gebucht, weswegen ich die nächsten Tage bei meiner Großmutter verbringen durfte. Sie besaß einen kleinen Buchladen, genau der richtige Ort, um eine Woche wie diese zu vergessen.
Es läutete zur großen Pause. Ich musste nur noch diese und zwei weitere Unterrichtsstunden überstehen, dann konnte ich endlich zu ihr.
Während meine Mitschüler nach draußen gingen, blieb ich an meinem Platz sitzen und suchte nach Hausaufgaben, die ich bereits erledigen konnte.
»Dachte ich mir doch, dass du hier bist.«
Erschrocken sah ich auf und blickte in Jamies blaue Augen, die freundlich auf mir ruhten. Er kam zu mir und setzte sich auf den freien Platz neben mich, dann reichte er mir ein kleines Päckchen.
Irritiert blickte ich auf das Geschenk und schließlich wieder in seine Augen.
»Was ist das?«, wollte ich verwundert wissen und er lächelte nur.
»Mach es auf.«
Vorsichtig löste ich das blaue Geschenkpapier und starrte ungläubig auf die neue Ausgabe des Romans, den Jules mir zu Beginn der Woche ruiniert hatte.
»Das kann ich nicht annehmen«, sagte ich leise und legte das Buch auf den Tisch.
»Doch, natürlich kannst du. Ich bestehe darauf.«
»Aber das wäre nicht nötig gewesen, Jamie. Du hast das Buch ja nicht ruiniert.«
»Du könntest auch einfach Danke sagen und dich freuen.« Jamie zwinkerte mir zu und strich sich seine braunen Haare zurück.
»Danke«, flüsterte ich verlegen und spürte das Brennen auf meinen Wangen.
»So, und jetzt gehen wir nach draußen, ein bisschen Sonne tanken.«
Jamie stand auf und streckte mir seine Hand entgegen. Ich zögerte einen Moment und konnte nicht glauben, dass das gerade wirklich passierte. Erst wollte ich ihm widersprechen, doch als ich seinen Blick sah, traute ich mich nicht mehr.
»Okay«, stimmte ich schließlich zu und griff nach seiner Hand, während mein Herz kurz aussetzte.
Gemeinsam mit Jamie nach draußen zu gehen würde den Zorn meiner Mitschülerinnen um ein Vielfaches steigern. Aber wenn mir eine Sache an diesem Tag egal war, dann diese.
In Liebe, Mina
In den folgenden zwei Tagen dachte ich darüber nach, wie ich dem Buchladen zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen konnte. Das bevorstehende Halloween lieferte mir dafür die perfekte Idee. Kinder liebten Halloween und Gruselgeschichten. Ich würde einen Themenabend organisieren, zu dem Eltern mit ihren Kindern kommen konnten. Während ich die Flyer bastelte und es auf meinen Social-Media-Profilen postete, überlegte ich, welche Kinderbücher sich für die Lesung eignen könnten. Sofort musste ich an die Gänsehaut-Reihe denken, die ich damals schon geliebt hatte. Es würde perfekt werden, nun fehlte nur noch die richtige Dekoration und ein bisschen mehr Werbung.
Ich druckte knapp zweihundert Flyer aus und schnitt sie zurecht, weil ich keine Zeit mehr hatte, sie professionell herstellen zu lassen. Einige legte ich im Laden aus, die anderen würde ich gleich mitnehmen, wenn ich noch schnell die Dekoration besorgen ging.
Zwischen zwölf und vierzehn Uhr schloss ich den Laden wie üblich, wenn ich meine Mittagspause machte. Während ich zum nächsten Supermarkt ging, drückte ich jungen Familien, die mir entgegenkamen, die Flyer in die Hand. Die meisten Eltern schenkten mir ein Lächeln, was mich hoffnungsvoll stimmte.
Wenn meine Idee gut ankommen würde, sollte ich darüber nachdenken, öfter Themenabende zu veranstalten.
Ich kehrte mit drei vollen Tüten Halloween-Dekoration zurück und stellte sie zufrieden auf einem der Lesesessel ab. Da ich unterwegs eine Kleinigkeit gegessen hatte, ließ ich den Laden gleich geöffnet und begann zu dekorieren.
Im Schaufenster kreierte ich eine Friedhofsszene mit Gräbern, Watte, die aussah wie Nebel, der über den Boden zog, und Skeletten, deren Augen gefährlich leuchteten. Kürbis- und Geistergirlanden zierten die Regale sowie künstliche Spinnennetze mit Plastikspinnen. An meine Kronleuchter band ich kleine Fledermäuse und behängte sie zusätzlich mit Watte. Im gesamten Laden verteilte ich weitere LED-Kerzen und kleine Kürbisfiguren. Doch die Highlights waren der Totenkopf und die Kronleuchter mit den schwarzen Stabkerzen auf meinem Kassentresen.
Der Laden sah großartig aus.
Als ich mit allem fertig war und endlich auf die Uhr schaute, stellte ich erschrocken fest, dass ich bereits seit einer halben Stunde hatte schließen wollen. Ich hatte wieder keinen Kunden gehabt, doch ich würde die Hoffnung nicht aufgeben. Morgen würde ich im Lager nach Thrillern, Krimis, Fantasyromanen mit Vampiren und anderen Fabelwesen und Horrorbüchern suchen, alles was das Herz zu Halloween begehrte. Vielleicht konnte ich wenigstens am Wochenende ein paar Menschen anlocken.
Gerade als ich den Schlüssel für die Ladentür aus einem Fach des Kassentresens herausholen wollte, fiel mein Blick auf den Brief des Unbekannten. In den letzten Tagen hatte ich überhaupt nicht an ihn gedacht, geschweige denn daran, dass derjenige eine Antwort von mir erwartete.
»Ach, was solls«, murmelte ich, nahm mir einen Zettel und einen Kugelschreiber und legte alles auf dem Kassentresen bereit. Noch einmal las ich die Zeilen, die der Unbekannte geschrieben hatte, und griff schließlich selbst zum Stift.
London, der 26. Oktober 2016
Liebe(r) C.,
deinen Brief zu finden hat mich sehr überrascht. Es tut mir leid, dass ich einige Zeit gebraucht habe, um dir zu schreiben.
Um deine Frage zu beantworten:
Ja, ich glaube an Zufälle.
Wie eintönig und langweilig wäre die Welt, wenn wir es nicht tun würden? Ich bin überzeugt, dass einige Dinge, die uns passieren, vorbestimmt sind und dass sie einen tieferen Sinn haben. Niemand begegnet uns ohne Grund, auch wenn wir nicht immer wissen, welcher genau das sein soll.
Nenn so etwas Wunder oder Schicksal, völlig egal.
Aber das sind die Dinge, die unserem langweiligen Leben, fernab von Arbeit, Terminen und Verpflichtungen, ein bisschen Magie einhauchen.
Die Welt ist nie schwarz oder weiß, nie gut oder böse, nie eintönig und vorbestimmt. Es gibt immer etwas dazwischen, wenn man sich darauf einlässt.
Also suche nicht weiter nach einer Antwort, sondern akzeptiere, dass du nicht immer alles erklären kannst.
In Liebe,
Mina
PS: Muss ich mir Gedanken machen, weil du mich beobachtet hast, ohne dass ich es bemerkt habe? Wenn du ein(e) Stalker(in) bist, sag mir das bitte gleich, damit ich dementsprechend handeln kann.
Mit einem Lächeln auf den Lippen faltete ich den Brief zusammen und steckte ihn in einen Umschlag. Diesen klebte ich zu und legte ihn genau in die Stelle in meinen Blumen, wo ich den Brief des Unbekannten gefunden hatte. Ich war mir nicht sicher, ob das funktionieren konnte, doch was hatte ich schon zu verlieren?
***
Als ich am nächsten Morgen den Laden aufschloss, war der Brief zu meiner Verwunderung verschwunden. Eine Antwort konnte ich allerdings nirgendwo entdecken.
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