1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Mein mit unsauberer Schrift voll geschriebener Papierblock liegt noch offen auf dem alten Holztisch und ich überfliege noch einmal den namenlosen Brief, den ich gestern im Laufe des frühen Abends verfasst habe.
vom 26.März 2015
Geliebte,
sind wir von allen guten Geistern und auch von Gott verlassen? Oder war er überhaupt jemals da? Was ist los mit mir und dieser Welt? Ich hasse und liebe. Und oft das Gleiche gleichzeitig. Wie geht das nur zusammen ? Anna, mein Herz, meine Liebe!
Vielleicht aus Gewohnheit bete ich nach all den Jahren noch immer für Dich, dass es Dir gut gehen möge. Ich weiß nicht, ob das Beten ist, was ich da tue. Keine Ahnung. An was, an wen glaube ich eigentlich noch? Ich denke schon, dass ich glaube. Du hast es ja damals gesagt. Ich glaube immer noch an einen Schöpfer. Es muss etwas geben, dass uns begleitet. Ja etwas, das uns begleitet; Aber es beschützt uns auch nicht, bewahrt uns nicht. Es bestraft auch nicht. Aber es ist bei uns, wenn es dunkel wird um uns herum. Irgendetwas oder irgendjemanden gibt es da vielleicht. Etwas jenseits unserer Vorstellungskraft, das grösser ist als wir Menschen mit unseren Schwächen und unserer Einfalt.
Irgendwas oder irgendwer ? Ich weiß es nicht. Wer sind wir schon im galaktischen Treibsand der Jahrmillionen, dass wir so anmaßend und überheblich sind.
Was bleibt, wenn wir Menschen ganz bei uns sind; wenn wir ganz Mensch sind?
Was bleibt aber vom Menschen, wenn jeder nur noch nach dem eignen Vorteil strebt? Wenn Banker mit Nahrungsmitteln spekulieren? Wenn korrupte Vorstände Millionenbonifikationen abgreifen? Wenn fanatische Anhänger von Religionen Jets in Hochhäuser fliegen, ihre Nächsten abschlachten? Wenn selbst Gottes Diener Kinder missbrauchen? Wenn Millionäre ihre Dekadenz in den Medien zur Schau stellen? Wenn bestechliche Politiker Ehrensold und Vortragshonorare erhalten, um Menschen falsche Wahrheiten zu verkaufen? Wenn die Reichen immer gieriger werden und ihnen das Gemeinwohl einen Scheiss interessiert? Wenn Unternehmer Kunden und Partner über den Tisch ziehen, um sich und ihre Aktionäre maßlos zu bereichern? Wenn Medien mit ihrem ganzen Trash am Voyeurismus mit dem Primitiven verdienen?
Ist es recht, dass wir Flüchtlinge aus den Hunger- und Krisengebieten des Planeten die Türe vor den Augen zumachen, sie mit Waffengewalt von uns fern halten und zuschauen, wie das Mittelmeer zu einem gewaltigen Friedhof der Armen wird.
Anna, Gott !!! Was bleibt dann noch ?
Jetzt – am Ende der Moral – was bleibt ?
Geliebte, ich bete nicht mehr nur noch für dich sondern für uns alle, zum ersten Mal auch wieder einmal für mich.
Ich habe keine Ahnung zu wem, aber das ist jetzt auch egal.
Lieber Gott ! Bitte schicke endlich wieder deine Plagen über uns. Sende uns ein paar Katastrophen auf diesen Planeten – aber dieses Mal nicht zu den Ärmsten der Armen! Bringe uns die Erdbeben nach Frankfurt, die Tsunamis nach London, sende Stürme nach Zürich und lege Brände in Hongkong, Moskau, Dubai, New York und Peking.
Bitte beschere Eruptionen und Dürren denen, die keine Barmherzigkeit mehr kennen.
Beschere ein Armageddon all denen, die Geld mit Geld um des Geldes willen machen. Sende deinen Zorn den Zufriedenen und Satten, den Dekadenten und Arroganten, damit wir alle wieder Mensch werden. Vielleicht lernen wir dann endlich wieder das zu werden, was wir auch sein könnten; mögen wir lernen demütiger und dankbarer zu sein.
Bitte Gott! Bombe uns, die Kinder des Wohlstands, auf das Existenzielle zurück. So wie du es mit mir getan hast.
Ich glaube an Dich, Peter.
Beim Lesen dieser Zeilen beginne ich zu Zittern. Diese Zeilen habe ich vor ein paar Stunden unter Einfluss von meinem guten Freund Jack Daniels geschrieben. „Für einen Werbetexter ziemlich düsteres Zeug“, spreche ich mit mir selbst. Ich nehme das Blatt und falte es einmal. Ich gebe es in ein vergilbtes Couvert und schreibe das gestrige Datum darauf. 26.März 2015. Anschließend lege ich es in den großen braunen Umzugskarton in der Ecke zu den anderen zweitausenddreihundertachtundsiebzig Umschlägen. Einige davon sind versehen mit einem Datum aus der jüngsten Vergangenheit, von letzter Woche oder vom vergangenen Monat. Andere Umschläge tragen weitaus ältere Daten. Ich finde viele Daten, auch zufällig den 29.März - Annas Geburtstag. Oder Briefe vom 15. April 2003, 23. Juni 2011 , 1. November und der 24.Dezember 2009.
Ich wollte diese Briefe irgendwann einmal wieder lesen und sie zumindest mal in eine chronologische Reihenfolge bringen, wenn ich sie schon nicht an Anna adressieren kann. Eines Tages werde ich das tun.
Die soeben konsumierten extra starken Schmerztabletten schenken mir für ein paar Stunden Linderung, denn in meinem Schädel tobt immer noch das Chaos. Es galoppiert immer noch ein rastloses, wildes Pferd um sein Leben und zermartert mir trampelnd die linke Hirnhälfte, während sich meine rechte Gehirnhälfte immer noch mit tausenden Gedanken und einer betäubenden Melancholie beschäftigt.
Zwar hat sich inzwischen mein unkontrolliert pumpender Herzschlag auf eine erträgliche Frequenz zurückgeschraubt, so dass ich es wagen kann, einen flüchtigen Blick in den Spiegel zu werfen, doch Freude bereitet mir dieser Anblick auch am heutigen Morgen nicht. Ich besinne mich, dass ich Wichtiges zu tun habe.
„Heute ist es soweit. Heute fliege ich wieder hin!“ Ich strecke meinem Spiegel ein unrasiertes und ausgemergeltes Gesicht entgegen, prüfe die zahlreichen Falten und Furchen, die das Leben in den letzten Jahren hineingefräst hat und die tiefen dunklen Ränder unter den gebrochenen, rot unterlaufenen Augen. Aber aufrichtige Selbstkritik macht sich keine bei mir breit, sondern mehr eine nüchterne Gewissheit über meinen erbärmlichen Zustand bevor ich schliesslich doch noch andächtig beginne, ein mir gleichgültiges Gesicht zu rasieren.
„An die erlesene Ausstrahlung des Araberschimmels aus meinem Traum komme ich bei weitem nicht mehr heran, aber es interessiert ja auch niemanden mehr,“ entschuldige ich mein mangelhaftes Engagement bei der täglichen Körperpflege, während ich mich lieblos für meine bevorstehende Reise in die Welt ausserhalb meines abgeschotteten Territoriums präpariere.
Duschen, Zähne putzen, Haare bürsten, anziehen. Warum eigentlich dieser ganze Aufwand ? Wahrscheinlich pflege ich mein renovierungsbedürftiges Äusseres nur noch deshalb, um nicht bei meinen Kunden und Mitbürgern Mitleid zu erwecken. Ich hole mir die steinalte ausgewaschene 501 und stöbere in meinem Schrank nach etwas Brauchbaren. Ich zerre einen kaum getragenen hellgrauen Rollkragen-Pulli aus den Tiefen des Schranks. Den hatte ich schon Jahre nicht mehr an. „Dass ich den noch habe!“, wundere ich mich. Da! Wie gebannt blicke ich auf die weiche, hellgraue Wolle des vergessenen Kleidungsstücks. Wie vom Blitz getroffen erstarre ich voller Ehrfurcht und Unbehagen, voller Glückseligkeit und Scham.
Ein langes, dunkles Haar schlängelt sich auf dem gewebten Stoff. Annas Haar. Behutsam, wie bei einem Gottesdienst zelebriere ich das Aufsammeln des dunklen Haares. Ich nehme es vorsichtig wie ein Heiligtum zwischen meine zitternden Finger und peile minutenlang dieses Relikt aus einer anderen Epoche an. Ich halte es an meine Nase, um vielleicht noch etwas zu erriechen. „Es ist krank, was ich hier tue“, denke ich im Innersten. „Völlig krank, aber ich komme nicht raus aus diesem Irrgarten. Ich finde nicht heraus aus diesem Labyrinth.“
Prüfend und fragend drehe und wende ich das wertvolle Überbleibsel aus einer besseren Zeit vor meinen weit aufgerissenen Augen.
Bilder durchkreuzen meine Linse. Wieder bebt mein Herz. Wieder rast mein Puls.
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