Peter Zimmermann
Ein Totentanz
Vorwort Tanzende Skelette. Eines zupft am Gewand der Äbtissin, ein anderes gießt Wasser über den Kopf des Gärtners, ein drittes wirbt um die Gunst der jungen Frau und hält eine Sichel hinter dem Rücken versteckt. Wer die Spreuerbrücke in Luzern überquert und zu den bemalten Holztafeln im Dachgebälk hochblickt, mag sich wundern. Darf der Tod so unverfroren in Szene gesetzt werden? Der Totentanz auf der Spreuerbrücke ist einer von zahlreichen Bilderzyklen, die sich im europäischen Kulturraum seit dem 14. Jahrhundert verbreitet haben. Üblicherweise erscheint der Tod in personifizierter Gestalt, tritt Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Stände gegenüber und weist sie mehr oder weniger sanft darauf hin, dass die Zeit gekommen ist, sich vom irdischen Dasein zu verabschieden. Die Angesprochenen antworten mit Klagen oder gestehen reumütig Fehler ein, die sie in ihrem Leben begangen haben. Es hilft nichts. So reich oder mächtig oder jung sie auch sein mögen: Am Ende müssen sie gehen. Auch die dreizehn Erzählungen von Halt mir nur still handeln von der Grenze unseres Daseins. Dabei greifen sie Motive und Elemente aus verschiedenen historischen Totentänzen auf. Sie sind jedoch freier gestaltet, zeigen nicht nur den Moment des Todes, sondern erzählen vor allem vom Leben, das die jeweiligen Menschen geführt haben. Zur Tradition der Totentänze gehört das Zusammenspiel von Bild und Text. So wie sich zum typischen Totentanz-Bild jeweils einige Zeilen Text gesellen, werden die hier versammelten Geschichten durch sechs Illustrationen aus der Feder von Karin Widmer ergänzt. Peter Zimmermann Bern, im Juli 2021
Glanzmann muss gehen – Der Philosoph
Gamsblut – Der Jäger
Unter der Haut – Die Ärztin
Sonnenbarsch – Der Handwerker
Kalte Platte – Die Köchin
Wo die Augen waren – Der Jüngling
Antons Versuch – Der Tanz der Toten
Strom der Dinge – Der Sterndeuter
Als wären sie Geister – Das Brautpaar
Betrug – Die Bettlerin
Riccarda – Der Kaufmann
Pikoy – Die Edelfrau
Dreizehn – Der Schriftsteller
Tanzende Skelette. Eines zupft am Gewand der Äbtissin, ein anderes gießt Wasser über den Kopf des Gärtners, ein drittes wirbt um die Gunst der jungen Frau und hält eine Sichel hinter dem Rücken versteckt. Wer die Spreuerbrücke in Luzern überquert und zu den bemalten Holztafeln im Dachgebälk hochblickt, mag sich wundern. Darf der Tod so unverfroren in Szene gesetzt werden?
Der Totentanz auf der Spreuerbrücke ist einer von zahlreichen Bilderzyklen, die sich im europäischen Kulturraum seit dem 14. Jahrhundert verbreitet haben. Üblicherweise erscheint der Tod in personifizierter Gestalt, tritt Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Stände gegenüber und weist sie mehr oder weniger sanft darauf hin, dass die Zeit gekommen ist, sich vom irdischen Dasein zu verabschieden. Die Angesprochenen antworten mit Klagen oder gestehen reumütig Fehler ein, die sie in ihrem Leben begangen haben. Es hilft nichts. So reich oder mächtig oder jung sie auch sein mögen: Am Ende müssen sie gehen.
Auch die dreizehn Erzählungen von Halt mir nur still handeln von der Grenze unseres Daseins. Dabei greifen sie Motive und Elemente aus verschiedenen historischen Totentänzen auf. Sie sind jedoch freier gestaltet, zeigen nicht nur den Moment des Todes, sondern erzählen vor allem vom Leben, das die jeweiligen Menschen geführt haben.
Zur Tradition der Totentänze gehört das Zusammenspiel von Bild und Text. So wie sich zum typischen Totentanz-Bild jeweils einige Zeilen Text gesellen, werden die hier versammelten Geschichten durch sechs Illustrationen aus der Feder von Karin Widmer ergänzt.
Peter Zimmermann
Bern, im Juli 2021
Glanzmann muss gehen – Der Philosoph
Diese drei hat er noch nie gesehen. In der hintersten Reihe sitzen sie, Bücher haben sie keine dabei. Der erste kreuzt die Beine, der zweite gähnt und zupft Fäden aus dem Pullover. Der dritte glotzt nach vorne, das Kinn auf die Hände gestützt. Ihn wird er aufrufen, wenn sie die schwierigen Passagen besprechen.
Glanzmann geht zum Fenster. Es dämmert und Blätter wirbeln im Kreis. Eine Weile schaut er zu. Als es klingelt, legt er seine Notizen aufs Pult und setzt sich hin.
Kapitel sechs, Abschnitt C, sagt er. Der seiner selbst gewisse Geist. Wer will sich dazu äußern?
Im Mai kommen die Käfer. Markus holt Tennisschläger aus dem Keller und dann geht es los. Er streckt den Schläger in die Luft und dreht sich im Kreis. Er dreht sich im Abendlicht, dreht sich und die Tiere fallen auf die Erde wie Trauben bei der Ernte. Manchmal klingt es, als dresche er Bälle, meistens aber schmatzt es. Die Eltern haben es erlaubt. Das sind Schädlinge, haben sie gesagt.
Du auch!, ruft Markus und zeigt auf den Schläger.
Glanzmann schüttelt den Kopf. Er sitzt auf dem Boden und hält einen Käfer zwischen Daumen und Zeigefinger.
Sein Bruder kniet sich neben ihn. Was machst du?, fragt er.
Ich zähle die Schläge.
Welche Schläge?
Die des Käfers, sagt Glanzmann und streckt das Tier in die Höhe. Er hat ihm den Panzer entfernt. Er hat ihm das Herz freigelegt.
Und?, fragt Markus.
Glanzmann blickt auf seine Armbanduhr. Er schnalzt mit der Zunge. Vierundzwanzig, sagt er. Jetzt wissen wir es. Vierundzwanzig mal die Minute.
Das kann man so interpretieren, sagt Glanzmann. Kann man, wenn man unbedingt will. Die Studenten sehen ihn an wie immer, wenn sie überfordert sind. Nur die drei in der hintersten Reihe blicken über ihn hinweg. Er dreht sich um und sieht nach oben. Aber da ist nichts, da hängt bloß eine Uhr an der Wand. Er beugt sich wieder über den Text.
Weitere Vorschläge?, fragt er.
Jemand schnippt mit den Fingern.
Glanzmann hebt den Kopf. Ja?
Der Glotzer legt die Hände auf den Tisch und lehnt sich nach vorne. Seine Stimme ist leise. Er sagt: Du weißt nichts. Nichts hast du verstanden. Er lehnt sich wieder zurück und verschränkt die Arme.
Was fällt Ihnen ein?, will Glanzmann sagen, und: Seit wann duzen wir uns? Seine Stimme zittert. Was …?, sagt er. Die Studenten sehen ihn an. Der Glotzer steht auf, zieht die Jacke an, kommt auf Glanzmann zu und bleibt vor ihm stehen. Er hält die schlaffe Hand vor Glanzmanns Stirn. Dann lässt er die Finger nach vorne schnellen, als wollte er eine Fliege verscheuchen. Glanzmann weicht zurück.
Der Glotzer lächelt. Ich warte im Wagen, ruft er den beiden anderen zu und verlässt den Raum.
Glanzmann schüttelt den Kopf. Hegel kann einen ganz schön aus der Fassung bringen, sagt er. Niemand lacht.
In der Sakristei ist es düster. Touristen drängen vor den Gräbern, Glanzmann legt die Arme um Zoes Schultern. Ihr Haar riecht nach Orangen.
Diese Skulptur steht für den Tag, flüstert er in ihr Ohr. Und die hier steht für die Nacht.
Woher weißt du das?
Es gibt Zeichen. Die Eule neben ihrem Fuß.
Und weshalb die Maske? Zoe zeigt auf ein Gesicht im Stein.
Moment. Glanzmann löst sich von ihr und blättert im Führer.
Nicht so wichtig, sagt sie. Sie streichelt seinen Arm. Es ist egal, sagt sie. Sie sind schön, die Figuren.
Natürlich ist das wichtig, sagt er. Man muss es verstehen, sagt er und sucht weiter. Er blickt nicht auf, bis er es gefunden hat. Träume, sagt er. Die Maske steht für die Träume.
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