1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Ich habe die tiefe Bewusstheit der eigenen Endlichkeit erfahren und die kältestarrenden Viertausender haben mir meine eigenen Unzulänglichkeiten und Verfehlungen vor Augen geführt. Die beeindruckende Bergwelt der hochalpinen Gebirgsketten mit ihren gigantischen Basalt- und Kalksteinmassiven, den majestätischen Gletschern und schroffen Felsformationen hat mich seit jeher fasziniert. Wo ist man sonst dem Himmel und seiner eigenen Vergänglichkeit so nah? Die Endlichkeit aller Dinge ist in all den Jahrmillionen alten Felsen komprimiert, fühlbar, geradezu greifbar und körperlich erfahrbar. Einer dieser Sehnsuchtsorte ist das Jungfraumassiv im Berner Oberland. Am Ende des Lütschentales öffnet sich weit oben ein beeindruckender Talkessel mit seinen mächtigen Viertausendern, den grossen Gletschern, Fels und Firn. Ich stehe inzwischen noch etwas wacklig mitten in meinem Zimmer und stelle mir mit geschlossenen Augen die Farben des Himmels beim Sonnenaufgang über den Gipfelgraten vor. Dieser zauberhafte Ort gilt wohl zu Recht als einen der schönsten Bergdörfer der Welt. Grindelwald, Wengen und Mürren und das ganze Berner Oberland hatten mich schon als junger Mann unzählige Male zum Wandern, Klettern, Ski-Fahren willkommen geheissen. In der Tat: Eiger, Mönch und Jungfrau thronten wie Kathedralen des Übermenschlichen über dem Talkessel und ragten mit ihren schneebedeckten Gipfeln hoch bis in die Wolken. Unverrückbar waren sie da wie eh und je, auch wenn Wind und Wetter seit Jahrtausenden an ihnen zerrten. Mir geht es ähnlich wie den kältestarrenden Felsen mit meiner Liebe zu Anna. Etwas zerrt seit Jahren an mir. Geduldig und stur rüttelt etwas an meiner Kruste. Etwas Unausweichliches fordert mich heraus und nagt an meiner Seele. Meine Liebe zu dieser Frau reibt an mir, zehrt an mir und ist allgegenwärtig bis heute. Der langsam auftauende Permafrost, der kalte Wind über den Kämmen, die Wasserfälle an den Flanken erodieren das steinerne Gesicht der Berge und nagen unablässig und erbarmungslos an ihnen. An mir knabbert auch etwas; jede Stunde, jeden Tag. Meine Liebe weiss seit jenen Ereignissen weder wohin sie soll, noch wozu sie überhaupt da ist. Sie ist nur noch ein bohrender Schmerz, überflüssig, unnötig, sinnlos. Und sie krebst am mir. Sie ist unablässig da, nicht ausschaltbar, nicht stillbar. Sie ist präsent, unbarmherzig, allumfassend, leidenschaftlich und grausam, genau wie Wind und Wasser an diesen Gneis- und Basaltfelsen wühlen. Doch nicht minder gegenwärtig ist auch mein Hass auf die, die mir alles genommen hatten.
Ehrfürchtig denke ich auch jetzt wieder an diese eine heilige, spektakuläre Felswand. Die brutale, ewige Wand des Eiger. Die Wand der Dramen und Triumphe, des Überschwangs und des Todes. Allmächtig überwältigt mich mein Zauberberg jedes Mal, wenn ich an ihn denke oder den Eiger-Trial entlang wandere. Auch Anna und ich, wir waren hier einmal ungetrübt glücklich vor vielen Jahren. Unzählige Male hatte ich ihr von der Magie dieses Ortes vorgeschwärmt solange, bis dass wir eines Tages hinfuhren. Sie war elektrisiert vom Panorama und der Kraft, die diese Berge versprühen. Ich hatte ihr bei einer Wanderung die einzelnen Gipfel, Fluchten und Gletscher der umliegenden Gebirgsketten beschrieben und erzählt, was ich wusste und fühlte. Gerade jetzt fühlt es sich wieder an als wäre es gestern gewesen, obwohl es eine halbe Ewigkeit her ist. Wir hatten bei einer unserer spätsommerlichen Bergtouren auf einer verlorenen, nach Wildblumen duftenden Alpenwiese pausiert und man hatte von dort aus einen phantastischen Rundumblick auf das gewaltige Jungfrau Massiv, die First und das Wetterhorn.
Wohl fast eine Stunde hatten wir damals stumm nebeneinander gesessen. Zwei Falken hatten ihre Flügel ausgebreitet und segelten im Wind und von ferne hörte man ein leises Grollen aus der Gletscherschlucht des oberen Grindelwaldgletschers, wo regelmässig ein paar kleinere Muren ins Hochtal abgingen. Dann hatte Anna ganz leise zu mir gesagt:
„Fühlst du das, Peter? Spürst du es auch? Hier an diesem Ort? Hier ahnt man es, oder? Hier ahnt man, dass es etwas Göttliches gibt in dieser Welt. Wenn du diese gewaltigen Berge siehst, die Felsen, Gipfel und Grate, wenn du den Bergwind fühlst, das Eis riechst, dann weiss man es doch, oder Peter? Dann erkennt man Gott und sich selbst in den Dingen. Dann erfährt man, wie klein wir eigentlich sind und wie unglaublich überheblich. Du spürst es doch auch Peter! Man ahnt …“ , sie stockte kurz. „Man ahnt …. ‚Ewigkeit‘. Die Ewigkeit, die keine Uhr mehr messen kann, keine Wissenschaft mehr ergründen und kein Geist mehr fassen kann.“ Jedes ihrer Worte hatte sich in diesem Augenblick in meine Seele gefräst. In dem Moment wusste ich, dass sie mein Leben ist. Ich griff nach ihrer Hand und hielt sie ganz fest. Tief sah ich in ihre klaren braunen Augen. „Anna, so ewig wie diese Berge hier ist auch meine Liebe zu Dir. Sie wird alles überdauern, selbst diese Felsen und Gletscher wir sie überdauern.“ Ihre Augen hatten geleuchtet und sie lächelte nur, geradeso wie immer, wenn ich ihr wieder einmal zu gefühlsduselig geworden war. „ Du alter Romantiker!“, hatte sie verzeihend gesagt und gab mir einen langen warmen Kuss.
Nur wenige Monate später sollten die Berge diese Liebe überlebt haben.
Nur wenige Monate später sollte unsere friedliche Zweisamkeit und unsere ganze kleine private Welt darin kollabieren.
Am Ende war ich nur ein Mensch, nur Peter. Ich war nicht stark genug für einen Kampf, den ich nicht gewinnen konnte. Ich war nur Peter von Bergen, ein Mann, den ich schon seit über vierzig Jahren zu kennen glaubte und dessen Eigenarten und Absonderlichkeiten ich seit über vier Jahrzehnten mit mir herumschleppe.
Der Peter, dessen Blut zirkuliert, obwohl er sein Herz nicht mehr fühlen will.
Der Peter, der atmet, obwohl er nicht mehr wissen will wozu.
Der Peter, der lebt, obwohl er schon vor vielen Jahren gestorben ist.
Der Peter, der gestern Abend einmal mehr seine Existenz in einer Flasche Hochprozentigem ertrunken hat.
Traumbilder wollen wieder auftauchen. Immer wieder sehe ich sie in meinen Nacht- und Tagträumen. Immer wieder Anna mit ihren Anna-Augen, ihren Anna-Lippen, ihrem Anna-Gang.
Und ich hatte mich selbst gesehen, den sterbenden Hengst am Strand. Sein Tod kam aus dem Hinterhalt – wie bei mir, sein Sterben erlebente er wie eine Erlösung, eine Hoffnung.
Das Glockengeläut des Baseler Münsters läutet mich in die Wirklichkeit zurück.
Es ist schon sechs. Eigentlich müsste ich mich ranhalten; die Swiss-Maschine wird am Euroairport nicht auf mich warten.
Ich greife noch mit müdem Blick zur Fernbedienung und bemerke dabei, dass meine linke Hand wieder unbewusst das Tattoo mit den beiden geographischen Zahlenreihen auf meinem rechten Unterarm berührt. Es ist bereits sehr verblasst in den letzten Jahren.
41° 53’ 18’’ N 12° 28’ 53’’ O
40° 42’ 42’’ N 74° 0’ 45’’ W
Einundvierzig Grad, dreiundfünfzig Minuten, achtzehn Sekunden Nord
Zwölf Grad, 28 Minuten, dreiundfünfzig Sekunden Ost und die andere Vierzig Grad, zweiundvierzig Minuten, zweiundvierzig Sekunden Nord Vierundsiebzig Grad, null Minuten, fünfundvierzig Sekunden West.
Ich schalte schnell noch den Fernseher ein und wähle wie immer das Frühstücksfernsehen von ARD und ZDF. Gott-sei-Dank die Kölner sind dran. Sven Lorik vertreibt mir meine alltägliche Melancholie am frühen Morgen nach einer ätzend qualvoll langen Nacht. Es gelingt ihm mal wieder mich doch noch mit seiner den Menschen zugewandten Art zu motivieren, mir einen Kaffee zuzubereiten. Gedanken wechseln in meinem Kopf wie die Wellenbilder des Flusses da draussen. Gedanken verschwimmen wie die sich in seinem Wasser spiegelnden Lichter der Stadt.
Ich denke an die zu erledigenden Text-Aufträge aber es ist wie verhext: Mir fällt nichts mehr ein. Ich bin leer, mein Kopf ist tot, ohne Inspiration, ohne Esprit und ohne Witz. „Es wird Zeit für diese Reise“, denke ich bei mir, während Peter Grossmann wieder ein spannendes Fussballthema im Sportblock mit Professor Froböse ausdiskutiert. Ich tauche einmal mehr ab in eine Ablenkung, in die Komfortzone des Alltäglichen, die mich wie antrainiert daran hindert, Gedanken aufkeimen zu lassen, die immer wieder mein Herz zum Bersten bringen.
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