„Ob ich der letzte sein werde, wird sich erweisen.“ Er kniff dem alten Mann ein Auge zu und der kicherte.
„Bist ja noch jung genug.“, lachte Will zurück. Gut, dass du es nicht besser weißt, dachte Magnus. Holly trug auf.
„Es handelt sich um ein Rezept aus Sarahs Tagebüchern; sie hat es wohl von der französischen Frau.“, erklärte sie.
„Paul …“ Magnus biss sich auf die Zunge.
„Wie bitte?“
„Schon gut. Ich hätte es gerne, wenn wir, bevor wir beginnen, ganz kurz Sarahs gedenken, denn sie hat es vielleicht am schwersten von euch allen gehabt.“, sagte er mit heiserer Stimme. Stefania sah ihn merkwürdig an. Will schaute Holly an und hob die Augenbrauen. Holly hob die Schultern. Schon wieder Sarah. Magnus senkte den Kopf und faltete unwillkürlich die Hände. Zögernd taten es ihm die anderen nach, wobei Holly überlegte, ob sie in den letzten Tagen Anzeichen von Religiosität bei ihm bemerkt hatte. Ihr fielen die vielen Bibeln ein. Nach zwei Minuten wurde Holly aber unruhig und Will schaute hinüber zu dem Gast, aber Stefania war es dann, die mit gerunzelter Stirn sagte: „Es wird kalt.“ Mit einem Ruck hob der Gedenkende den Kopf und riss die Augen auf. „Ist wohl noch der Jetlag.“, murmelte er. Dann ließen sie es sich schmecken.
Während des Essens wanderte sein Blick immer wieder zu dem Mädchen, das die Nahrungsaufnahme geradezu zu zelebrieren schien. Sie war hoch konzentriert am Werke und hantierte mit ihren kleinen Händen rasch und zielstrebig. Holly war nicht entgangen, dass Magnus von ihrer Tochter seltsam angetan schien und war stolz darauf, dass der eigenartige Fremde aus Europa Stefania ganz offenbar mochte.
„Geht doch schon einmal hinaus auf die Veranda, Holly und ich machen den Abwasch.“, schlug Will nach dem Essen vor und füllte die Reste in einen kleinen Topf für Kyonna, deren Abwesenheit in keiner Weise angesprochen worden war. Will wollte partout nichts davon wissen, dass Magnus seine Hilfe anbot, und so fügte sich der Gast und ging mit Stefania hinaus.
Er setzte sich mit einem Bier auf einen hölzernen Sessel, den Will nach Stefanias Auskunft selbst gebaut hatte, und das Mädchen erklomm eine ebenfalls selbst gebastelte Holzbank. Sie rutschte ganz nach hinten, um sich anlehnen zu können. Das hatte zur Folge, dass ihre Beine waagerecht teils auf der Sitzfläche lagen, teils in die Luft ragten. Eine Zeit lang schwiegen sie. Magnus trank Bier und rauchte eine Zigarette, Stefania trank Limonade.
„Das tötet.“, meinte sie nach einer Weile und deutete auf den Glimmstengel.
„Mich nicht.“, behauptete er.
„Bist du sicher?“
„Ja.“, meinte er apodiktisch. Stefania runzelte die Stirn. Das war eine der üblichen Ausreden von Rauchern, die ihre Sucht nicht zugeben wollten, wie Will immer sagte, der lange selbst geraucht hatte.
„Du bist etwas ganz Besonderes.“, durchbrach das Mädchen die abermalige Stille experimentierfreudig.
„Jeder Mensch ist etwas Besonderes.“, hielt Magnus philosophisch entgegen.
„Du bist besonderer.“, beharrte Stefania. Magnus musste schmunzeln.
„Wie kommst du darauf?“
„Ich habe dir hinter die Schädeldecke geschaut, wie Mom das nennt.“ Magnus‘ Nerven waren mit einem Mal gespannt wie die Sehne eines etruskischen Kriegsbogens.
„Was hast du entdeckt?“, fragte er, bemüht, nicht allzu argwöhnisch zu klingen.
„Viel. Sehr viel mehr als bei anderen.“
„Wie meinst du das?“, wollte er mit ehrlichem Interesse wissen.
„Es ist einfach mehr da.“ Stefania zuckte die Schultern, als sei diese Erklärung evident.
„Was siehst du genau?“ Sie sieht Dinge, hatte Holly gesagt. Was bedeutete das? Konnte sie Gedanken lesen? Was, wenn sie die Wahrheit gesehen hatte? Sie war ein Kind. Würde man ihr glauben, wenn sie es erzählte? Würde sie es erzählen? Er würde ihr nichts antun können, das wusste er bestimmt.
„Schwer zu sagen. Wenn wenig da ist, kann ich einzelne Dinge erkennen. Wie, wenn Krebse in einem Eimer sind. Sind drei drin, kannst du die einzelnen Krebse gut erkennen. Ist der Eimer voller Krebse, weißt du nicht, wo der eine aufhört und der andere anfängt; es ist alles eins.“ Magnus atmete auf. Vorerst.
„Ich bin also ein Eimer voller Krebse?“, schmunzelte er über das Bild. Stefania überlegte, wie sie es ihm erklären könnte.
„Natürlich nicht. Ein Krebs ist ein Gedanke, eine Idee, eine Erinnerung, oder auch mehrere. Der bewegt sich, wie sich Gedanken bewegen. Die meisten Menschen haben wenige davon, also bei ihnen ist das überschaubar. Bei dir … ist alles voll. Du hast viel mehr Gedanken als andere Menschen. Als wenn du mehr denkst, oder … mehr Erinnerungen hast.“, meinte sie ernst. Er würde sich vor diesem Kind, so anziehend er es fand, in acht nehmen müssen.
„Mom sagt, du hast viele Bücher.“
„Es hat sich im Laufe der Zeit einiges angesammelt. Du liest auch viel, habe ich gehört.“
„Ja, aber ich habe nicht so viele Bücher. Wir gehen in die Bücherei und leihen sie aus.“ Das klang ein wenig traurig.
„Sollen wir morgen ein paar Bücher kaufen?“, schlug Magnus vor. Stefanie strahlte ihn an und nickte, um sofort wieder traurig zu sagen: „Wir haben nicht so viel Geld, wir können nur gebrauchte Bücher kaufen.“ Magnus kniff das Mädchen sanft in die Wange.
„Ich schenke dir ein paar.“ Stefanias Gesichtchen hellte sich auf und sie klatschte in die Händchen. „Prima!“
„Mom sagt, du hast viel Geld.“ Die Erwachsenenscham hatte sie noch lange nicht erreicht.
„Nun ja, äh, vielleicht etwas mehr als manche anderen Leute.“, stammelte Magnus verlegen.
„Warum hast du so viel Geld?“ Vielleicht sollte sie rasch erwachsen werden.
„Meine Vorfahren haben Eis zu Geld gemacht.“, lachte er. Stefania sah ihn kritisch an, dann sah sie auf die dunkle Straße.
„Kennst du die Geschichte von Pinocchio? Das ist ein Junge aus Holz. Immer, wenn er lügt, wächst seine Nase.“ Magnus fühlte sich ertappt, aber warum? Was konnte dieses Kind wissen?
„Warum sagst du mir das?“
„Deine Nase ist etwas lang geraten.“
„Deine auch.“, konterte er und lächelte zufrieden, als hätte er einen Ausgleich im Fußball erzielt. Allerdings schien ihm der Gegner nicht ebenbürtig, und darum schämte er sich sofort wieder.
„Entschuldige, du hast eine nette Nase.“
„Sie ist wie deine: etwas zu lang.“, stellte sie unbeleidigt fest.
„Dann haben wir etwas gemeinsam.“ Er nickte ihr aufmunternd zu und sah nun auch auf die Straße.
„Ja, wir können manchmal nicht die Wahrheit sagen.“ Das klang wie eine ganz rationale Feststellung, als wenn ihrer beider Lügen ein Naturereignis wären wie ein Sommerregen. Magnus sah die Kleine von der Seite mit gerunzelten Brauen an.
„Erzähl mir von dem Eis.“
Er hielt die Bierflasche hoch und tippte mit dem Zeigefinger daran. „Um das herzustellen, braucht man Kühlung. Ist im Sommer, ohne Strom, schlecht zu machen. Und in grauer Vorzeit gab es keinen Strom. Aber im Sommer haben die Leute am meisten Durst. Was sollte man also tun? Im Gebirge gab es Gletscher und in manchen Spalten Schneefelder, die sich über den Sommer hinweg hielten. Mein Vorfahr“, Stefania fasste sich an die Nase, „kannte sich aus. Er wusste, wo selbst im heißesten Sommer reines Eis zu finden war, nämlich in einer Höhle, und brachte es zu Tale. Das war im Grunde der Anfang meines Unternehmens.“
„Und woraus besteht dein Unternehmen jetzt?“
„Nun, du kennst doch Montanus-Limonaden und Montanus-Bier.“
„Nur von der Werbung, Mom sagt, es ist zu teuer.“
„So? – Jedenfalls stellen wir Getränke her, fast überall auf der Welt gibt es unsere Produkte zu kaufen.“
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