Ein tiefes Brummen lenkte die Aufmerksamkeit des Sheriffs zur Straße. Dort tauchte ein Panzerwagen der Staatspolizei auf und rollte langsam und bedrohlich auf die im Hof geparkten Wagen zu. Sofort erhoben sich die Odin-Soldaten und feuerten in alle Richtungen wild um sich. Unbeeindruckt setzte das schwere Gefährt seine Fahrt fort. Ohne auch nur seine Geschwindigkeit zu verringern, schob der Panzer die Fahrzeuge zusammen.
Noch ehe die Odin-Soldaten sich eine andere Deckung suchen konnten, traf der Gruppenführer des mobilen Eingreiftrupps eine Entscheidung. Die Organisation musste geschützt werden. Niemand durfte erfahren, wer sie waren. Keiner seiner Soldaten durfte in Gefangenschaft geraten. Er raffte alle erreichbaren Sprengpakete zusammen, ohne sich darum zu kümmern, dass seine Männer immer noch versuchten, die Polizei mit heftigem Gewehrfeuer auf Distanz zu halten. Mit geübten Handgriffen machte er die Ladungen scharf, schaute sich noch einmal mit starrem Blick um und aktivierte mit einer kleinen Fernbedienung alle Zünder zugleich.
Im buchstäblich selben Moment rammte der Polizeipanzer einen der schwarzen Wagen der Odin Force. Das schwere Fahrzeug kippte um und fiel auf den Gruppenführer und die Spreng- pakete, was eine enorme Explosion nach sich zog. Sonnenheiße, orangerote Flammenzungen schossen unter den Fahrzeugen hervor, die von der enormen Wucht der Detonation in die Luft geschleudert wurden, und verbrannten alles im Umkreis von dreißig Metern. Durch das im Explosionsherd entstandene Vakuum zuckten die Flammenzungen zurück, und eine Feuerkugel im Zentrum der Sprengung schleuderte die Autos wie Spielzeuge in alle Richtungen. Ein Orkan unterschiedlicher Geräusche erfüllte die Luft, es hörte sich an wie die Eruption eines Vulkans. Scharfkantige Blechteile, Glas, Steine, Dreck und Körperteile regneten auf den Fabrikhof. Die in Deckung liegenden Polizisten waren durch die Wucht der Explosion zum Teil mehrere Meter durch die Luft gewirbelt worden und richteten sich nach einigen Minuten benommen auf.
Das Fabrikgelände hatte sein Aussehen dramatisch verändert. In einem weiten Kreis rings um den Explosionsherd lagen zerstörte Fahrzeuge, und Flammen züngelten aus den Trümmern. Der Polizeipanzer lag auf der Seite wie ein verwundetes Tier, seine Räder drehten sich noch langsam, als versuchten sie, festen Grund zu finden. Mehrere um das Hauptgebäude gruppierte Schuppen waren einfach in sich zusammengestürzt. Das Hauptgebäude selbst zeigte starke Beschädigungen. Alle Fenster waren nach innen eingedrückt, die Fensterscheiben geborsten. Große Risse zogen sich durch das Mauerwerk, und ein beängstigendes Knirschen und Knacken zeugte davon, wie schwer das Bauwerk getroffen war. Von der Eingangstür fehlte jede Spur, und dahinter rührte sich nichts.
Sheriff Ward und seine Deputys wurden kurz darauf unverletzt unter den Stahlschränken hervorgezogen, die den
Polizisten das Leben gerettet hatten. Die Wucht der Detonation hatte die Schränke mitsamt den dahinter kauernden Officern ins Treppenhaus geschoben. Das Treppengeländer hatte die kippenden Schränke abgefangen und so einen Hohlraum für die Polizisten geschaffen. Erstaunt betrachtete SheriffWard die von Splittern gespickte Vorderseite der Stahlschränke. Überall steckten scharfkantige Fragmente im Metall. Ihm wurde ganz flau im Magen, als er begriff, welches Glück er und seine De- putys gehabt hatten.
Ein herbeieilender Sanitäter wollte ihn am Arm packen und zu einem Krankenwagen führen. Doch der Sheriff schüttelte den Mann einfach ab und deutete mit dem Kinn auf die mit Trümmern übersäte Treppe: »Da oben wird Ihre Hilfe dringender gebraucht.«
***
Buffalo, NY State (früher Nachmittag)
Paul hatte die Observation des Odin-Force-Offiziers Rudgar Kruger beendet, nachdem dieser die Funkverbindung zu seinem Einsatztrupp einfach abgebrochen hatte. Offenbar wütend über den sich abzeichnenden Fehlschlag seiner Männer, hatte er die Funkzentrale verlassen und lief ziellos auf dem Lagergelände umher.
Müde schlurfte Paul in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Er stöberte eine Weile lustlos in den Fächern und schloss dann resigniert die Tür. Er musste unbedingt einkaufen gehen. Seine Vorräte waren nahezu aufgebraucht. Ergeben zuckte er mit den Schultern, steckte seinen Geldbeutel ein und machte sich auf den ungeliebten Weg zum Supermarkt. Er hasste es, Lebensmittel einzukaufen. In den langen Gängen der Supermärkte fühlte er sich immer wie erschlagen vom vielfältigen Angebot. Wer brauchte schon zwanzig Sorten Toastbrot oder zehn Sorten Spaghetti? Man kaufte überhaupt immer mehr ein als nötig.
Mit trüben Gedanken setzte er sich in seinen Wagen und wollte gerade den Zündschlüssel umdrehen, als die Welt um ihn herum versank.
Paul war erschrocken und verwundert, wenngleich er in seinen Meditationen als indianischer Traumseher schon oft geistig auf eine Traumebene gewechselt war. Doch immer basierte der Vorgang auf einer speziellen Meditationstechnik in seiner Schwitzhütte.
Seine rationalen Überlegungen verloren sich im Nebel des Transfers zur Traumebene. Eine ihm wohlbekannte Landschaft materialisierte sich ringsum, und doch war alles anders als gewohnt. Da war die weite Ebene mit ihren gewaltigen Tafelbergen, durchzogen von einem glitzernden Fluss. Unterhalb des Hügels, auf dem Paul stand, befand sich das Indianerlager, umgeben von einigen Birken. Die Szenerie, die sich Paul bisher wie ein Standbild präsentiert hatte, als eine Momentaufnahme vergangener Zeiten, war diesmal in unheimlicher Bewegung. Der Fluss schien zu schäumen, das spärliche Gras der wüstenartigen Landschaft zeigte ein fahles Grau. Doch das Himmelsgewölbe bot das erstaunlichste Bild: Blutrote Wolken zogen mit beachtlicher Geschwindigkeit über einen tiefblauen Himmel. Paul glaubte Gesichter und Gestalten zu erkennen. Vor Grauen aufgerissene Münder, starre Augen, vor Schmerz gekrümmte Geschöpfe, ganze Gruppen gepeinigter Menschen. Erschüttert senkte Paul den Blick und schaute erneut zum Indianerlager hinunter. Dort unten stand der Schamane, der Paul in der Vergangenheit schon oft rätselhafte Hinweise gegeben hatte. Der Medizinmann winkte, und Pauls Traumkörper schwebte auf ihn zu. Schon von Weitem erkannte er, dass der Geistschamane dieses Mal real zu sein schien und nicht zweidimensional wie bei vorangegangenen Visionen.
Unvermittelt begann der Medizinmann zu sprechen: »Ich habe dich gerufen, und du bist gekommen.«
Paul überlegte noch, was er dem Schamanen als angemessene Antwort geben konnte, als dieser weitersprach: »Seit Langem wird den Völkern großes Unrecht, Leid und Schmerz zugefügt. Nun ist die Zeit gekommen, den Bestien in Menschengestalt Einhalt zu gebieten.«
Paul hatte nicht die leiseste Idee, wovon der Schamane sprach. Ständig wurde auf der Welt gemordet, geplündert, vergewaltigt und geraubt. Zu jeder Sekunde geschah Unrecht in schlimmster Form, wurden Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen, ob von kriminellen Banden oder Regierungen.
»Vor vielen Jahrzehnten«, fuhr der Schamane fort, »begann das Morden und Quälen. Ruchlose Männer verfolgten einen Plan und führen diesen noch immer aus. Sie sind nicht mehr weit davon entfernt, ihr Ziel zu erreichen. Wenn das geschieht, wird unendliches Leid über alle Völker kommen.«
»Wer wird was tun?«, unterbrach ihn Paul.
»Das kann und darf ich dir nicht sagen.«
»Wieso nicht?«
»Es ist mir verboten. Bitte frage nicht. Nun höre, ich habe nur begrenzte Zeit, obwohl Zeit für mich keine Bedeutung hat.«
Paul verstand überhaupt nichts.
»Du und der Jäger, ihr seid auf der richtigen Spur. Sende einen deiner Gefährten in die Stadt der zwei Flüsse. Dort wird er eine Spur der Bestien entdecken. Dort haben sie das >Verbotene< entdeckt. Dort haben sie viele Menschen geopfert.«
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