Hinter ihm war es in der Zwischenzeit ruhig geworden. Kein Geschrei und keine Gewehr- oder Pistolenschüsse waren mehr zu hören. Das konnte alles Mögliche bedeuten. Der Gegner war ins Haus eingedrungen, oder der Sheriff hatte sich ergeben, oder sonst was. Smithy wollte nicht darüber nachdenken. Sich am wackligen Zaun festhaltend, arbeitete er sich Schritt für Schritt nach Süden vor.
Im Fabrikgebäude wurde die Lage für Sheriff Ward und seine Deputys immer gefährlicher. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Angreifer ihre bisher gezeigte Zurückhaltung aufgeben und die versperrte Eingangstür mit Gewalt öffnen würden. Ihn wunderte es ohnehin, dass die Schwarzgekleideten die Tür nicht schon längst gesprengt oder mit den elektrischen Winden, die an den Fahrzeugen angebracht waren, aus den Angeln gerissen hatten. Er musste die Angreifer wenigstens so lange in Schach halten, bis Verstärkung eintraf. Gemeinsam mit seinen Männern schleppte er unter größter Vorsicht und möglichst leise schwere Eisenschränke auf den Treppenabsatz. Die Schränke sollten den Polizisten Schutz vor dem zu erwartenden Beschuss von draußen bieten. Nachdem der Sheriff und seine Leute in Position waren, ließ er das Feuer eröffnen. Er wollte seine Gegner von der Tür vertreiben und sich und seinen Leuten wichtige Zeit verschaffen. Schon bei den ersten Schüssen zogen sich die Angreifer von der Tür zurück und gingen in Deckung.
Der Gruppenführer des mobilen Eingreiftrupps der Odin Force sprach aufgeregt ins Mikrofon des Funkgeräts in einem der Wagen. Er verzichtete darauf, sein mobiles Funkgerät zu benutzen, da seine Leute jedes Wort hätten mit anhören können.
»Einsatzteam an Zentrale.«
Sofort war die kalte Stimme des Operators im Lautsprecher zu hören. Der Gruppenführer regelte die Lautstärke nach unten.
»Wo zur Hölle haben Sie die ganze Zeit gesteckt? Wir versuchen Sie schon seit einiger Zeit zu erreichen. Wie ist der Stand der Dinge?«
»Hier Einsatzteam. Wir haben Schwierigkeiten. Einige Polizisten haben Haus zwei besetzt und sich verschanzt. Wie sollen wir vorgehen?«
»Einen Moment.«
Fast zwei Minuten hörte der Leiter des Einsatzteams nur monotones Rauschen aus den Lautsprechern. Dann klang die Stimme des Operators erneut aus der Funkanlage.
»Haus zwei zerstören. Es dürfen keine Spuren zurückbleiben.«
»Schicken Sie uns Verstärkung?«
»Nein, auf keinen Fall. Sprengen Sie das Gebäude und verbrennen Sie dann alles. Ende.«
Damit wurde die Verbindung unterbrochen.
Der Offizier der Odin Force schaute noch eine Sekunde auf das Funkgerät und rief dann seine Männer im Schutz der Fahrzeuge zusammen.
Smithy war fast hundert Meter an der Straße entlanggehumpelt, ehe er sich völlig erschöpft an einen Baum lehnte. Er spürte das verwundete Bein nicht mehr, was er als schlechtes Zeichen wertete. Er verspürte eine taube Müdigkeit, und sein Körper forderte eine Pause. Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen. Er atmete schwer, und der Schweiß rann ihm brennend in die Augen. Gerade als er sich weiterschleppen wollte, hörte er mehrere Fahrzeuge, die sich näherten. Sich am Baum festhaltend, hob er die Hand und winkte, in der Hoffnung, gesehen zu werden.
Der Fahrer des ersten Wagens der Staatspolizei sah Smithy und handelte sofort. Er brachte sein Fahrzeug direkt neben dem verwundeten Polizisten quer auf der Fahrbahn zum Stehen und blockierte damit die nachfolgenden Einsatzkräfte. Mit dieser spontanen Aktion rettete er viele Leben. Krankenwagen und Polizeifahrzeuge hielten versetzt hinter ihm. Der Fahrer, ein Sergeant der Staatspolizei, sprang aus dem Wagen und rannte auf Smithy zu, der immer noch am Baum stand. »Was ist mit ihnen geschehen?«
Smithy brauchte einige Sekunden, um sich zu sammeln, und der Sergeant wollte seine Frage schon wiederholen, als er antwortete: »Was mit mir ist«, kam es krächzend aus seinem Mund, »das ist nicht wichtig. Da drinnen sind Bewaffnete. Ich glaube, das sind Soldaten. Sie versuchen, in die Fabrik einzudringen. Sind schwer bewaffnet. Der Sheriff hält noch die Stellung, glaub ich. Schnell, Sie müssen sich beeilen und sehr vorsichtig sein. Die Burschen sehen sehr gefährlich aus.«
Smithy wollte noch weiterreden, aber plötzliche Schwäche ließ ihn taumeln. Herbeigeeilte Sanitäter griffen dem verletzten
Polizisten unter die Arme und legten ihn vorsichtig auf eine mitgebrachte Trage.
Die Männer der Staatspolizei sammelten sich und besprachen schnell das weitere Vorgehen. Dann rannten sie geduckt zum Fabrikgelände und verteilten sich.
Die Männer der Odin Force hatten sich zwischen den Wagen auf den Boden gesetzt und bereiteten ihre Sprengladungen vor. Jeweils zwei Mann sollten über das Dach des angrenzenden Gebäudes in die alte Fabrik vordringen, um dort ihre Sprengpakete zu platzieren. Nur der Gruppenführer des mobilen Eingreiftrupps sicherte mit dem Schnellfeuergewehr die Umgebung. Gerade als ein Staatspolizist über den halb verfallenen Zaun des Fabrikgeländes stieg, sah der Gruppenführer in seine Richtung. Leise zischte er: »Achtung! Wir haben Besuch!«
Sofort unterbrachen die Odin-Männer ihre Arbeit an den Sprengpaketen und griffen nach den Waffen.
***
New York (früher Nachmittag)
Hanky hatte mit Pauls Hilfe das Funkgespräch zwischen dem Odin-Force-Lager und dem mobilen Eingreiftrupp mitgehört. Was um Himmels willen ging da vor? Immer noch hallte der furchtbare Befehl in ihm nach, den er und Paul mitgehört hatten: »Sprengen Sie das Gebäude und verbrennen Sie dann alles.«
Um was für ein Gebäude handelte es sich da, und warum sollte es zerstört werden? Hanky dachte fieberhaft nach und sagte dann zu Paul: »Bitte bleib beim Kommandanten. Ich muss mich kurz ausklinken und bin gleich zurück.«
Noch ehe Paul etwas erwidern konnte, war Hanky fort. Er schlug die Augen auf, schwang sich aus dem Bett und rannte zu Walt ins Büro. Auf seinem Weg durchs Wohnzimmer sah er Richard und seine Frau Rita auf dem Sofa sitzen, die irgendwelche Akten studierten. Ohne innezuhalten, rief er den beiden zu: »Kommt mit ins Büro, schnell, wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Sofort sprangen sie auf, ließen die Papiere achtlos fallen und folgten ihm ins Büro.
»Mal herhören, Leute. Wir brauchen eine Information über einen eventuellen Polizeieinsatz in der Gegend des Odin-Lagers. Wir wissen noch nicht genau, wo das Lager ist. Jedenfalls wollen diese Leute ein Haus sprengen, genauer gesagt das Haus Nummer zwei. Das bedeutet, dass es noch mehr Häuser geben muss. Aber das braucht uns im Moment erst in zweiter Linie zu beschäftigen. Es wurde auf jeden Fall davon gesprochen, dass sich Polizisten im Haus verschanzt haben. Also muss auf jeden Fall eine Kommunikation der Behörden in dieser Gegend stattfinden. Wartet kurz, ich frage Paul, wo sich das Lager dieser Odin-Leute ungefähr befindet.« Hanky schloss die Augen und sagte laut: »Paul, eine Frage, bist du da?«
Die anderen konnten die Konversation nur einseitig mitverfolgen, dennoch schrieb Rita alles mit, was Hanky sagte. Im Augenblick lauschte er offenbar Paul, den nun war er still und hielt die Augen geschlossen. Unvermittelt begann er, nach einer endlos scheinenden Minute des Schweigens, zu sprechen: »Okay, Paul. Habe verstanden. Halte unseren Kontakt, ich wiederhole für die anderen.
Findet Sand Lake, im nördlichen New York State. Die Stadt -oder wahrscheinlicher ist es eine kleinere Ansiedlung - liegt am New York Highway 60. Zwischen Sand Lake und Barber- ville muss sich das Lager der Odin Force befinden. Im Umkreis von etwa fünfzig Meilen muss das Haus zwei zu finden sein. Richtig, Paul? Okay, ich klinke mich aus, bin aber gleich wieder bei dir.«
Damit öffnete Hanky die Augen. »Habt ihr alles? Okay. Paul und ich werden noch etwa eine Stunde lang versuchen, Genaueres zu erfahren. Walt, mach den Wagen bereit für un- sere Abfahrt. Wir beide fahren nach Sand Lake. Ich weiß zwar noch nicht genau, wie wir vorgehen werden, bin aber der Ansicht, dass ich besser in der Nähe der Geschehnisse sein sollte. Richard und Rita, ich bitte euch, hier solange die Stellung zu halten. Richard, versuch herauszufinden, wo es einen größeren Einsatz der Polizei gegeben hat, oder besser, wo ein solcher Einsatz im Augenblick stattfindet. Ich bin sicher, dass du mit deinen journalistischen Kontakten einiges rausfinden kannst. Alles Weitere besprechen wir später. Ah, und noch etwas. Ruft mich, wenn die Stunde um ist.«
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