»Geht schon klar, Hanky«, antwortete Richard. »Wir werden dir alle Informationen beschaffen.«
Rita nickte bekräftigend und wollte noch etwas hinzufügen, aber Hanky hatte sich schon umgedreht und eilte zurück in sein Schlafzimmer.
»Na, der hat aber ein Tempo drauf«, ließ Rita vernehmen. Dann klatschte sie in die Hände und sagte streng: »Dann wollen wir mal anfangen, meine Herren. In einer Stunde müssten wir doch einiges herausfinden können.«
»Da kommt ganz die Lehrerin zum Vorschein«, murmelte Rich vor sich hin und ging hinüber ins Wohnzimmer, um zu telefonieren.
***
Philadelphia (morgens, gleicher Tag)
Roger Thorn konnte es kaum glauben. Sein Undercover-Einsatz war unbemerkt geblieben. Weder das FBI noch die Odin Force schienen nach ihm zu suchen. In dem schäbigen Büro, das eigentlich die Schaltzentrale des als zwielichtig Henry Rolin war, hatte Roger im Internet nachgeforscht und mit einem nicht registrierten Handy die üblichen Stellen kontaktiert. Nichts, absolut nichts. Es gab nur eine mögliche Erklärung: Der Lagerkommandant der Odin Force, Rudgar Kruger, hatte
Rogers Flucht nicht an seine Vorgesetzten gemeldet. Über seine Motivation konnte Roger nur spekulieren. Es gab zwei denkbare Szenarien. Entweder war etwas Außergewöhnliches geschehen, das die Aufmerksamkeit Krugers völlig beanspruchte, und er wollte sich später, zu einem günstigeren Zeitpunkt, um Roger kümmern, oder der Kommandant wollte einfach vertuschen, dass es einen weiteren Spitzel in seiner Truppe gab. Wie auch immer, Roger Thorn stand auf keiner Suchliste. Damit wusste auch niemand beim FBI von seinen Ermittlungen. Theoretisch konnte er zu seinem normalen Leben zurückkehren. Wie verlockend das klang! Frau und Kinder, Familie, kleines Haus, Bürojob und das Wochenende im Garten mit Freunden verbringen. Gab es so etwas in Wirklichkeit? Bestimmt, nur nicht in seiner Wirklichkeit, in der ein normales Leben wie eine kitschige Utopie wirkte. In seiner Wirklichkeit waren er und viele seiner Kollegen mit der dunkelsten Seite der menschlichen Seele konfrontiert. Das Wissen, was für ein schreckliches Raubtier der Mensch sein konnte, welche unvorstellbaren Grausamkeiten jeden Tag verübt wurden, hatte Roger veranlasst, eine unbewusste Schutzhaltung einzunehmen, die ihm keine engeren Bindungen erlaubte. Dieses fundamentale Misstrauen jedem Menschen gegenüber hatte in den letzten Jahren nur eine Person durchbrechen können. Vielmehr: Sie hatte es einfach weggewischt. Die eher zufällige Begegnung mit Hank Berson hatte in gewisser Weise sein Leben verändert und den Glauben an das Gute im Menschen in ihm wiedererweckt. Dieser junge Mann hatte Rogers distanzierte Haltung einfach ignoriert und ihn durch seine vorurteilsfreie Neugier für sich eingenommen. So hatte Roger Thorn es zugelassen, dass sich eine gewisse Art von Freundschaft zu Hanky aufbaute, die in erster Linie auf gegenseitigem Vertrauen basierte.
Roger merkte, dass seine Gedanken abschweiften, und rief sich selbst zur Ordnung. Zunächst musste er sich darüber klar werden, wie er nun vorgehen wollte. Er definierte für sich das
Ziel, die Gruppe Phönix zu zerschlagen. Wie? Das wusste er noch nicht im Detail. Er nahm sich einen Block zur Hand und notierte die Punkte, die zu erledigen waren:
Er wollte sich mit Hanky treffen und dessen Ideen und Meinung dazu hören. Er musste sich bei seiner Dienststelle melden und seinem Vorgesetzten Erfolge seiner Undercoverarbeit präsentieren und gleichzeitig darauf dringen, weiter im Verborgenen zu arbeiten. Dazu musste er sich noch einmal mit Henry Rolin unterhalten. Er war sicher, dass Rolin den einen oder anderen Konkurrenten aus dem Weg haben wollte.
Wenn alles erledigt war, konnte er nach Sand Lake aufbrechen. Vor Ort würde er dann, der Situation entsprechend, seine nächsten Schritte planen.
Wie auf ein geheimes Stichwort flog mit erheblichem Schwung die Tür auf, und Henry Rolin stampfte herein. Sofort schnauzte er Roger mit der ihm eigenen Unfreundlichkeit an: »Du bist ja immer noch hier. Wie lange glaubst du wohl, meine Großzügigkeit ausnutzen zu können? Es wird Zeit, dass du verschwindest. Die Leute fangen schon an zu reden.«
Roger Thorn grinste nur und machte es sich noch bequemer hinter dem Schreibtisch seines Gastgebers. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst, und er deutete auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch, was Henry Rolin zu einem deftigen Fluch veranlasste.
»Gut, dass du da bist, Henry. Wir müssen ein paar Sachen besprechen, ehe ich meine Sachen packe. Also pass auf ...«
So vergingen fast zwei Stunden angeregter Unterhaltung wie im Flug, und Henry Rolin hatte bald die Rolle des mürrischen Gangsters aufgegeben. Roger sprach in Andeutungen, berichtete oberflächlich über die Gefahr, die von der Gruppe Phönix und der Odin Force ausging, ohne Namen zu nennen, und vergaß nicht zu erwähnen, dass die Konspiration bis in hohe Regierungskreise führen könne. Henry wurde abwechselnd blass oder zornesrot. Noch nie hatte er den Behörden getraut. Zum
Gesetzlosen war er eher durch widrige Umstände geworden, tief in seinem Herzen aber hatte er sich seine Menschlichkeit bewahrt. Am Ende der Unterhaltung saß er für einen Moment still da. Dann straffte er sich und fragte einfach: »Wie kann ich helfen?«
Roger ergriff dankbar seine Hand. »Du bist also doch nicht der harte Hund, als der du dich immer ausgibst. Darüber bin ich sehr froh. Du musst mir ein paar Sachen besorgen und in der folgenden Zeit, sagen wir, solange ich unterwegs bin, alle Gerüchte in der Stadt aufmerksam verfolgen. Wenn du etwas Wichtiges erfährst, ruf mich an. Du hast ja meine Handynum- mer. Also, lass uns loslegen. Ich will losfahren, so schnell es geht. Ich habe so ein Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft.«
Der Saal (früher Nachmittag)
Frank starrt auf den Bildschirm, der über seinem Krankenbett hing. Noch nie hatte er sich Gedanken darüber gemacht, zu welchem Zweck diese Bildschirme über den Spendern hingen. Die Verantwortlichen, seine Vorgesetzten, hatten sich bestimmt etwas dabei gedacht. Und warum sich über Dinge den Kopf zerbrechen, von denen man ohnehin nichts verstand?
Für ihn bestand das Universum nur noch aus rotem Wallen. Unablässig bildeten sich Formen, Gestalten, Gesichter, Fratzen, die immer wieder zerflossen und sich neu bildeten. Sein Gehirn schien sich zu verkrampfen, und er merkte nicht, dass er lauthals schrie. Sein Körper war wie in einem einzigen schmerzhaften Krampfzustand. Sein Herz pochte wild. Eine rote Hölle hatte sich seiner bemächtigt, aus der es scheinbar kein Entrinnen gab.
Am Anfang hatte er eher zufällig auf den Bildschirm geschaut und fand es recht interessant, das Farbenspiel zu beobachten. Das passte auch gut zu der Rolle, die er den Polizisten vorzuspielen versuchte. Ohne Vorwarnung war er dann zum Gefangenen des Bildschirms geworden. Rot, rot, rot .
Plötzlich bäumte sich sein verkrampfter Körper auf, ohne sein willentliches Zutun. Muskelstränge, Arme und Beine zuckten unkoordiniert. Durch die heftigen Bewegungen rückte sein Körper immer näher an die Bettkante, während sein Blick weiterhin starr auf den Bildschirm gerichtet war. Endlich, der
Schwerkraft folgend, stürzte er auf den Betonboden. Damit war er dem Bann des roten Wahnsinns entkommen. Frank schloss seine schmerzenden Augen und begann haltlos zu weinen.
Sheriff Ward und seine Männer hatten die Metallschränke zur Eingangstür getragen und dahinter Stellung bezogen. Durch die kleinen Öffnungen der nun glaslosen Fenster schauten die Männer gespannt nach draußen. Die Angreifer verschanzten sich zwischen den parkenden Wagen und reagierten nicht auf die Aufforderung der Staatspolizei, sich zu ergeben. Zweimal hatten Mitglieder der Schwarzgekleideten versucht, über den Hof zu einem der Fabrikgebäude zu gelangen. Wild um sich feuernd, versuchten sie die Polizei in Deckung zu zwingen. Die Männer der Staatspolizei reagierten kaltblütig und schossen gezielt auf die Odin-Force-Söldner. Vier Männer lagen inzwischen blutend und ungedeckt auf dem Boden des Fabrikhofs. Nur ein gelegentliches leises Stöhnen kündete davon, dass die Söldner noch am Leben waren.
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