Der Weg vom Supermarkt zu mir nach Hause, war zu belebt und zu gut ausgeleuchtet.
Ein Glück für mich.
Dennoch war ich der Auslöser gewesen, der zu der ganzen Streiterei geführt hatte.
Darüber hatte ich noch überhaupt nicht nachgedacht und plötzlich ertappte ich mich dabei, wie ich einen kurzen Blick zurück über meine Schulter warf. Nur für einen kurzen Moment. Um mich zu vergewissern, dass mir niemand folgte.
Das Ganze war so verrückt!
Beruhig dich, sagte ich zu mir und ging weiter.
Die Allee entlang und direkt auf die Schule zu, die am Ende der Straße stand.
Ein altes Backsteingebäude, wie es abstoßender kaum hätte sein können.
Mit kleinen Fenstern, die sich an dem vierstöckigen Gebäude, in langen Reihen über die Hausfronten erstreckten. Darauf befand sich ein hässliches schwarzes Dach, in dem sich noch weitere Klassenräume befanden, die aber nur genutzt wurden, wenn Bedarf bestand. Angeblich gab es auf dieser Etage Probleme mit den Brandschutzbestimmungen. Ich hatte das ganze Gerede darüber nicht verstanden.
Es war mir auch ziemlich egal gewesen. Auch als es damals hieß, unser Klassensaal sollte dort oben hin verlegt werden.
Die Etage war genauso unattraktiv und abstoßend, wie alle anderen.
Die Wände voll mit Graffiti, die Treppen alt und ausgetreten. Das Geländer nur noch ein spärlicher Überrest dessen, was es einmal gewesen war, ein breiter Holzlauf, der durch unzählige Schnitzereien, mehr oder weniger verunstaltet worden war und schließlich an vielen Stellen aufplatzte.
Die Toiletten waren alt und verdreckt, so wie die ganzen Waschräume und die Turnhalle, die sich auf der Rückseite des Gebäudes anschloss.
Die ganze Schule hätte eine Renovierung dringend nötig gehabt, doch ich würde das nicht mehr erleben.
Noch ein Jahr!
Wenn alles gut ging.
Ich erreichte das große Durchgangstor, das zum Schulhof führte und schaute nochmals zurück.
Hinter mir nur Kinder!
Alles okay, dann ging ich hinein.
Nach der Schule fuhr ich ins Krankenhaus.
Mit dem Bus durch die Stadt, vorbei am Stadtpark, dem Geschäftsviertel und auf der anderen Seite der Stadt den Hügel hinauf, bis zum höchsten Punkt, wo das Krankenhaus lag.
Ein kalter, unangenehm wirkender Neubau. Weiß und abstoßend.
Die silbernen Jalousien blinken freundlich in der Sonne und verbargen, was sich dahinter befand. Schmerz und gähnende Langeweile. Ich hasste den Bau alleine deshalb schon, weil ich bisher noch nichts Gutes in ihm erlebt hatte. Hier gab es nur Spritzen, Pflaster und langwierige Untersuchungen.
Nichts von dem, war je angenehm gewesen.
Besucht hatte mich hier noch nie jemand. Und obwohl ich heute als Besucher entspannt sein sollte, ergriff mich das gleiche beklemmende Gefühl im Magen, das ich jedes Mal gespürt hatte, wenn ich als Patient hier gewesen war. Mit diesem Gefühl, lief ich durch die Doppeltür am Eingang und betrat den großen Eingangsbereich des Gebäudes.
Dort links, ging es in die Ambulanz.
Den Weg kannte ich genau!
Geradeaus, dann zweimal rechts und noch mal links, dort lag ein kleiner Warteraum, in dem man Platz nehmen musste. Bevor man dann irgendwann aufgerufen wurde.
Wie viele Stunden ich dort schon mit irgendwelchen Wehwehchen verbracht hatte, konnte ich überhaupt nicht sagen.
Jetzt musste ich mich aber neu orientieren.
Station 3, hatte Melanies Mutter gesagt.
Ich überlegte und suchte nach einer Beschilderung, die mir den Weg zu den Stationen weisen würde, als plötzlich jemand zu mir sagte: »Kann ich dir helfen?«
Erschrocken fuhr ich herum.
Eine Frau in einem weißen Kittel stand neben mir und schaute mich an.
Nichts Ungewöhnliches in einem Krankenhaus und doch starrte ich sie an, wie eine geisterhafte Erscheinung. Schluckte dabei verlegen. Fast schuldbewusst. Heute schien ich derart schreckhaft zu sein, das ich anfing, mich über mich selbst zu wundern. Doch in Wahrheit gab es nichts, worüber ich mich wundern musste. Nur das sich der Gedanke, dass Donald Herb auch mir auflauern könnte, so intensiv in meinem Gehirn festgebissen hatte, das ich bei jeder Kleinigkeit aufschreckte. Darum sagte ich etwas irritiert: »Ich suche die Station 3. Kinderstation, dort liegt meine Freundin Melanie Schneider!«
»Dort entlang und dann mit dem Aufzug in die dritte Etage. Wenn du den Aufzug verlässt, siehst du direkt die Tür der Station.«
»Danke!«, bedankte ich mich und folgte der Beschreibung, die die Frau mir gegeben hatte. Ich betrat den Aufzug, fuhr hinauf und verließ ihn wieder, in der dritten Etage.
Wie die Frau mir erklärt hatte, sah ich sofort die Tür zur Station und ging darauf zu.
Ich öffnete sie und ging hinein.
Ein langer, gelber Korridor mit vielen Zimmertüren. Bilder von Kindern aus aller Welt, hingen an den Wänden. Dazwischen einige selbst angefertigte Gemälde und Basteleien.
Etwas weiter vorne, war ein verglaster Raum, aus dem Licht in den Flur fiel.
Ich ging darauf zu und stellte mich, in die weit offen stehende Tür.
Ein junger Mann, saß an einem Tisch und schrieb etwas in eine Mappe.
Als er mich sah, blickte er auf und fragte: »Hallo, kann ich helfen?«
»Guten Tag! Ja!«, sagte ich, »Ich suche meine Freundin, Melanie Schneider.«
»Zimmer 312! Wieder zurück und das vorletzte Zimmer, auf der linken Seite!« Er deutete mit dem Arm den Weg an, auch wenn ich ihn längst kannte.
Ich ging zurück und stand dann vor der Tür zu Zimmer 312.
In großen Ziffern war die Nummer an der Tür zu lesen.
Ich starrte die Ziffern an.
Was würde mich auf der anderen Seite erwarten, fragte ich mich. Wie sollte ich mich verhalten?
Ob Melanie wohl sauer auf mich war?
Zögerlich klopfte ich an und öffnete die Tür.
»Hallo!«, fragte ich leise, als ich den Kopf hinein steckte.
»Komm rein!«, rief eine Stimme und Melanie erhob sich im Bett.
Sie war alleine im Zimmer. Das zweite Bett war unbenutzt. Ich schloss hinter mir die Tür und war sichtlich erleichtert darüber, dass nicht noch jemand im Zimmer sein würde. Schnell ging ich auf sie zu.
Wir umarmten uns und dann sah ich mir lange ihr Gesicht an. Es war voller blauer Flecke und über ihrem Auge hatte sie eine kleine Wunde, die man genäht hatte.
»Das sieht ja schlimm aus!«, sagte ich schließlich aus einem Impuls heraus und schämte mich im selben Moment, für diese Bemerkung. Es war mir einfach so heraus gerutscht, ohne dass ich es wirklich sagen wollte.
»Vergiss es!«, winkte Melanie ab. »Ich hab‘s überlebt.«
»Aber nur knapp oder?«
Melanie setzte sich auf die Kante ihres Bettes und schaute auf ihre Hände, die sie in ihren Schoss gelegt hatte.
»Dieses Schwein hat mich richtig übel verprügelt!«
»Erstatte eine Anzeige oder so!«, schlug ich vor und setzte mich neben sie. Legte den Arm über Melanies Schulter.
»Nein!«, fuhr Mel ängstlich auf. »Nur das nicht. Versprich mir, dass du es niemandem sagst. Deinen Verdacht meine ich!«
Ich sah sie verwirrt an. »Welchen Verdacht?«
»Na das Donald Herb mich verprügelt hat! Ich habe niemandem erzählt, wer es war.«
»Aber das kannst du doch nicht verschweigen!«, sagte ich empört.
»Ich möchte nicht, dass er mir irgendwann noch mal auflauert. Bitte!«, Melanie sah mich flehend an und ich musste mir eingestehen, das ich sie sogar verstehen konnte. Auch wenn ich es noch so falsch fand. Doch auch ich hatte Angst und Melanie so im Arm zu halten, steigerte meine Angst noch mehr. Es fühlte sich seltsam an. Sie fühlte sich seltsam an. So wie ich sie im Arm hielt und dabei versuchte, sie nicht unbewusst zu drücken. Sondern nur behutsam meinen Arm um ihre Schulter zu legen.
»Okay!«, sagte ich ruhig. »Ich verstehe es zwar nicht wirklich, aber es ist deine Sache, was hast du denn hier erzählt, wie das passiert ist?«
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