1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 So wie es jetzt war, war es schon besser.
Wesentlich besser!
Noch eine Stunde in der Schule und dann war es soweit.
Doch diese Stunde zog sich wie Gummi.
Die Minuten vergingen zäh und langsam.
Immer wieder schweifte mein Blick von der Tafel, hinüber zur Tür des Klassenzimmers, über der die Uhr hing.
Wieder eine Minute weiter und noch neunundfünfzig die übrig blieben!
Aber als wäre das noch nicht genug, ging es in diesen beiden letzten Schulstunden auch noch um Physik. Ein Fach, mit dem ich überhaupt nichts anfangen konnte. Es hatte mich nicht interessiert, warum der Strom von Minus nach Plus floss und es interessierte mich nicht, warum eine Glühbirne brannte.
Das einzig interessante an diesem Thema war gewesen, als Rektor Zimmer, vergessen hatte, die Stromleitung vom Wasserhahn abzunehmen, als er sich die Hände waschen wollte.
Und so kam es, wie es kommen musste, er schrie kurz auf, als er den Stromschlag abbekam und erklärte dann eine halbe Stunde lang, was gerade geschehen war, um von seinem Missgeschick abzulenken.
Doch keiner hatte ihm wirklich zugehört. Er hatte erzählt und erzählt und wir hatten gekichert.
Jetzt ging es um ein anderes Thema.
Magnetfelder!
Mindestens genauso interessant.
Vor allen Dingen, wenn es um die skalare Ausrichtung derselben ging. Hießen nicht auch Fische so, fragte ich mich.
Es war mir im Prinzip egal.
Heute zählte nur eines. Melanie!
Rektor Zimmer turnte in seinem dunklen Anzug vor der Tafel hin und her und malte dabei die unterschiedlichen Magnetfelder auf das Schwarz.
Linien und Kreise. Ein wildes Gewirr, das für mich keinen Sinn ergab.
Ich wendete den Kopf ab und blickte durchs Fenster, auf die Baumkronen.
Nicht nur um diesem langweilen Thema zu entfliehen, sondern auch um mich etwas von der Uhr abzulenken.
Vermutlich war noch keine weitere Minute vergangen.
Oder?
Ich wendete den Kopf. Blickte auf die Uhr.
Doch eine.
Enttäuschend!
Um wie viel langweiliger konnte das hier noch werden, fragte ich mich und blickte wieder auf die Tafel.
Noch mehr Magnetfelder!
Rektor Zimmer schien an der Tafel zu Höchstform aufzulaufen.
So verging Minute um Minute.
Mitbekommen hatte ich kaum etwas, aber reicher um die Erfahrung, dass es wirklich noch langweiliger sein konnte, war ich geworden. Denn die Spannung, über die Magnetfelder, kam gänzlich zum Erliegen, als bei dem anstehenden Versuch, der Stromgenerator den Geist aufgab und sich nichts tat.
Die Metallspäne blieben regungslos liegen, ohne sich für irgendeine Richtung zu entscheiden. Dann endlich klingelte es und ich war mit eine der ersten, die aus dem Raum stürzte.
Die Treppe hinunter und die Straße entlang.
Ich rannte zur Bushaltestelle.
Nicht die Haltestelle, an der die ganzen Schüler standen, sondern die, von der aus der Bus direkt zur Südseite der Stadt fuhr und fast direkt vor dem Krankenhaus anhielt. Kaum an der Haltestelle angekommen, traf auch schon der Bus ein. Ich stieg ein und setzte mich auf die hinterste Bank.
Dann ging die Fahrt los.
Wieder durch die halbe Stadt und den Hügel hinauf.
Dann war ich da.
Als ich das Krankenhaus betrat und mit dem Aufzug nach oben fuhr, beschäftigte mich nur ein Gedanke.
Doktor Schreiber!
Ich wollte ihm auf keinen Fall begegnen. Nicht weil ich Angst vor ihm gehabt hätte, sondern weil ich ihn nicht noch weiter anlügen wollte.
Prinzipiell hatte ich mit dem Lügen keine Probleme. Schließlich bestand mein halbes Leben aus Lügen und Ausflüchten.
Doch hier war es anders.
Meiner Meinung nach war es nicht richtig, Donald Herb einfach so davon kommen zu lassen. Er hatte Melanie übel zugerichtet und sollte dafür auch zur Rechenschaft gezogen werden. Irgendjemand musste diesem fetten Kerl einmal klarmachen, was für eine erbärmliche Figur er eigentlich war. Aus dem Grund hätte ich am liebsten die Wahrheit erzählt. Doch ich hatte es versprochen.
Als ich die Station betrat und die Glastür hinter mir ins Schloss fiel, stand meine Freundin bereits vor dem verglasten Zimmer des Arztes und schaute zu mir den Gang hinunter.
Dabei konnte ich selbst von hier aus sehen, wie übel dieser Donald sie zugerichtet hatte. Die Schwellungen in ihrem Gesicht hatten zwar etwas nachgelassen, doch an Farbschattierung hatten sie zugelegt.
Melanie lächelte mich zwar an, doch ich konnte ihr anmerken, dass sie sich in ihrem Inneren elendig und ungerecht behandelt fühlte und in diesem Moment wurde mir klar, warum sie nicht sagen wollte, was wirklich geschehen war.
Wenn sie auch nur ein wahres Wort über diese Sache erzählen würde, dann musste sie für den Rest ihrer Jugend vor Donald Angst haben.
Er würde sie finden, ihr auflauern. So wie er es jetzt auch getan hatte, denn ihm war es egal, ob er ins Gefängnis kommen würde oder nicht. Sein Leben war nichts weiter als ein ständiges auf und ab, zwischen seinem Alkoholkonsum und einer aussichtslosen Zukunftsperspektive. Ein sinnloses dahin fristen, ohne Aussicht auf Arbeit, oder irgendeine einschneidende Verbesserung.
Vielleicht wollte er ja sogar ins Gefängnis!
Melanie blickte den Flur entlang, durch den ich kam und umarmte mich, als ich sie erreicht hatte.
Ich indes erschrak, als mich Melanie in den Arm nahm und ich einen kurzen Blick durch die Glaswand werfen konnte. Im Zimmer dahinter, saß Doktor Schreiber und war damit beschäftigt, die letzten Papiere für Melanies Entlassung auszufüllen, während sie schon fertig gepackt dastand und darauf wartete, endlich von hier zu verschwinden.
»So!«, sagte er schließlich, als er seine Unterschrift unter das Formular gesetzt hatte und es Melanie entgegen hielt. Sie griff durch die offene Tür und nahm es dankend entgegen.
»Da ist ja auch schon deine Freundin!«, sagte er noch, als er mich sah.
»Guten Tag!«, fügte er freundlich an.
Ich nickte stumm.
»Dann kann es ja jetzt losgehen!«, bemerkte er grinsend und seine Hornbrille rutschte dabei langsam die Nase hinunter, wo er sie sogleich mit einer geschickten Handgeste zurück schob, damit sie wieder langsam auf das Ende seiner Nase zu rutschen konnte, von wo er sie...
»Hast du dir das noch mal durch den Kopf gehen lassen?«, fragte er mich und Melanies Blicke verfinsterten sich. Sie betrachtete unverständlich mein Gesicht, während ich sagte: »Es gibt nichts zu überlegen.«
»Dann wünsche ich euch beiden eine gute Heimfahrt!«
»Ja, danke«, giftete Melanie kurz dazwischen und nahm ihre Tasche auf.
Wir verließen die Station. Als die Glastür hinter uns zugefallen war und wir auf den Aufzug warteten fragte mich Melanie: »Was wollte er denn?«
»Na was wohl!«, antwortete ich, etwas verärgert darüber, das sie mich gezwungen hatte, zu schweigen. »Er hat deine Geschichte nicht geglaubt und wollte mich überreden, dass ich etwas sage. Ich habe mich richtig mies gefühlt, als ich ihn anlügen musste.«
»Aber du hast ihm nichts gesagt oder?«
»Nein! Auch wenn ich es nicht richtig finde. Dieses fette Schwein sollte eine Strafe bekommen!«
Ein leiser Klingelton ertönte und die Tür vom Aufzug ging auf.
Rasch stiegen wir ein.
Drei Tage dauerte es noch, bis Melanies Gesicht wenigstens ansatzweise wieder Ähnlichkeit mit ihrem früheren Aussehen erkennen ließ und die Schwellungen langsam abzuheilen begannen. Die blauen Flecke in ihrem Gesicht, hatten sich grün verfärbt und die Narbe, über ihrem rechten Auge, sah auch schon viel kleiner aus.
Doch auch wenn die Verletzungen im Gesicht und an ihrem Körper abnahmen, hatte sie nichts von dem vergessen, was sie durchgemacht hatte.
Mit jedem Tag war ihr Hass auf Donald Herb mehr angestiegen und wie an jedem Tag, an dem ich sie besuchte, saßen wir auch an jenem Nachmittag wieder auf dem Bett, in ihrem Zimmer und dachten darüber nach, wie wir Donald etwas von dem heimzahlen konnten, was er Melanie angetan hatte.
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