Endlich fand ich die kleine Fernbedienung, in der Kante meines Bettes, direkt zwischen Matratze und Holzgestell. Nahm sie in die Hand und richtete sie über das Bett hinweg auf die Anlage. Die Lichter an dem Gerät flackerten auf und Musik fing an den Raum zu erfüllen.
Mein Zimmer war einfach aber gemütlich.
Zwei Kiefernschränke, an der gegenüberliegenden Wand vom Bett.
Am Fenster, ein großer Schreibtisch, auf den mein Vater damals eine noch größere Arbeitsplatte gelegt hatte, weil ich einfach viel Platz benötigte.
Hier auf dieser Seite ein Bett, eine Kommode und viele Poster an den Wänden. Die Wände selbst waren alle in einem hellen pink gehalten, doch bei den vielen Postern sah man nicht mehr viel davon.
Abgerundet wurde das Ganze noch von den unzähligen Stofftieren auf den Schränken und in den Regalen. Erinnerungen an schönere Zeiten.
Eben ein typisches Jugendzimmer.
Angela Müllers kleine Welt.
Plötzlich klopfte es an der Tür und eine dumpfe Stimme fragte durch das Holz: »Angie bist du da?«
Dann ging die Tür auf und meine Mutter steckte den Kopf ins Zimmer.
»Die Musik ist an!«, sagte ich genervt. »Was denkst du, wo ich dann bin?«
»Entschuldige«, sagte meine Mutter kurz. Sie hatte ebenfalls dunkelbraunes Haar, wie ich. Hatte es sich aber kurz schneiden lassen. Sportlich sollte es aussehen, so wie sie gesagt hatte. Für mich sah sie so einfach nur alt aus.
Sportlich war anders!
Jedenfalls steckte ihr Kopf, mit der sportlichen Frisur, im Türrahmen, während sie einen rosa Bademantel trug, unter dem sie vermutlich nichts weiter an hatte. Und so wie sie den Kopf hinein steckte, hatte sie auch nicht vor, weiter ins Zimmer zu kommen.
»Wir essen gleich!«, bemerkte sie.
»Jetzt noch, ich hab eigentlich keinen Hunger.«
»Ja jetzt noch. Wir mussten ja auf die junge Dame warten.«, antwortete sie vorwurfsvoll und warf einen ausgedehnten Blick ins Zimmer, bevor sie verschwand.
Wie so oft, ließ sie dabei die Tür offen und wie immer, stand ich dann verärgert auf, schlug mit der flachen Hand gegen das Türblatt, so dass es mit einem lauten Knall zuflog. Dabei brannte meist meine Handfläche so unsäglich, dass ich mich noch mehr über meine Mutter zu ärgern begann.
Aber diesmal nicht.
Diesmal hatte die Hand, die Tür so getroffen, dass ich kaum einen Schmerz verspürte, als ich mich wieder aufs Bett setzte.
Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis meine Mutter, mich in die Küche rief.
Sie würde dann mit Phillip im Bett essen, während ich alleine vor dem Küchenfenster sitzen würde und mir aus den Resten, ein paar Brote schmieren durfte. Mehr würde sie um die Uhrzeit sowieso nicht mehr auftischen und natürlich musste ich danach auch alles wegräumen.
Wie praktisch Kinder doch sein konnten!
Heute war wieder so ein Tag, an dem ich mit dem Kopf in die andere Richtung schlafen würde!
Irgendwie hatte ich es den ganzen Tag über gespürt.
Ich legte den Kopf gegen die Wand und lauschte der Musik.
Was für eine blöde Wette, dachte ich.
Dann rief meine Mutter aus der Küche.
Am nächsten Morgen traf mich die Nachricht, von Melanies angeblichem Unfall, wie ein Schock.
Melanies Mutter hatte noch vor der Schule bei uns angerufen und mir mitgeteilt, dass Melanie im Krankenhaus liege. Prellungen am ganzen Körper und im Gesicht. Dazu eine Platzwunde, über dem rechten Auge, die mit zwei Stichen genäht werden musste.
Als ich die Nachricht in mich aufnahm und Melanies Mutter den Versuch unternahm einige Geschehnisse, des gestrigen Tages bei mir zu hinterfragen, konnte ich nur noch an Donald Herb denken.
Niemand sonst wäre für diesen Überfall in Frage gekommen. Doch aus den Fragen, die mir Melanies Mutter stellte, konnte ich erkennen, dass Melanie nichts davon erzählt hatte. Vermutlich gab es dafür einen guten Grund und solange ich diesen nicht kannte, entschloss ich mich dazu, die Geschichte mit Donald Herb für mich zu behalten. Was dazu führte, das ich während des Telefonats, jede Frage, die mir Melanies Mutter stellte, geschickt zu umgehen versuchte. Doch als sie dann auflegte, konnte ich fühlen, dass sie ahnte, dass ich ihr etwas verheimlichte.
Aber ich wollte nichts sagen. Wenigstens so lange, bis ich mit Mel gesprochen hatte.
Darum versuchte ich mir äußerlich nichts anmerken zu lassen. Auch wenn ich innerlich voller Zorn und Verachtung gegen Donald Herb war.
Plötzlich bedauerte ich, dass ich Melanie gestern Abend nicht nachhause begleitet hatte.
Die Vorstellung, was sie alles durchgemacht haben musste, während dieses fette Schwein sie misshandelt hatte, löste in mir eine ganze Welle von Hass und Wut aus, die nach und nach immer mehr anstieg.
Je länger ich über das, was gestern geschehen war nachdachte, umso mehr verstand ich, wie offensichtlich es gewesen war, dass er einer von uns beiden auflauern würde. Melanie hatte ihn schließlich bloßgestellt. Eine Blamage, die ein Säuferhirn, wie Donald Herb es besaß, nicht so ohne weiteres wegstecken konnte.
Als ich den Hörer zurück in die Ladeschale gestellt hatte, versuchte ich meine Mutter davon zu überzeugen, dass ich bereits heute Vormittag ins Krankenhaus müsse.
Doch meine Mutter sprach ein klares Verbot aus!
Auch nachdem ich immer wieder versucht hatte, sie umzustimmen. Schließlich hatte ich überlegt, ob ich die Schule einfach sausen lassen sollte.
Blau machen!
Aber bei den vielen Fehltagen, die ich bereits auf meinem Konto verbuchte und der Absprache, die meine Mutter mit meinem Klassenlehrer getroffen hatte, machte ich mich doch lieber auf den Weg in die Schule.
Wenn nicht, hätte mein Klassenlehrer bei meiner Mutter angerufen und sie darüber informieren, dass ich nicht in der Schule gewesen war und dann würde meine Mutter wieder Hausarrest verhängen. Eine der drakonischen Bestrafungen, die zu meinem Wohl sein sollten und die mich dazu bewegen sollten, zukünftig überlegter und erwachsener vorzugehen.
Meine Mutter liebte solche Maßnahmen.
Bei dem Gedanken daran, könnte ich ihn schon riechen. Den muffigen Gestank der Wohnung, den ich dann wieder für mindestens eine Woche einatmen durfte.
Bäh!
Also ging ich heute lieber zur Schule
Ein langer und beschwerlicher Weg, auf dem mich hundert Gedanken quälten und ich mich immer wieder daran erinnerte, was mit meiner Freundin geschehen war. Hinzu kam mein Gewissen, das mich immer wieder davon zu überzeugen versuchte, doch lieber ins Krankenhaus zu fahren.
Schließlich ging ich an der Bushaltestelle vorbei, wo meine Entschlossenheit, in die Schule zu gehen, auf eine harte Probe gestellt wurde.
Nein!
Ich blieb fest entschlossen.
Besuchen konnte ich Melanie auch noch am Nachmittag.
Vielleicht kam sie ja dann sogar schon wieder raus!
Schließlich versuchte ich, nicht mehr an Melanie zu denken, sondern vielmehr an ihren Täter.
Was ging nur in einem Menschen wie Donald Herb vor, das er ein siebzehnjähriges Mädchen krankenhausreif schlagen musste und das, obwohl sie ihm eigentlich überhaupt nichts getan hatte. Außer das sie ihn seine eigene Medizin hatte schmecken lassen. Er hatte mir hinterher gerufen und mich auf der Straße lächerlich gemacht. Mel hatte lediglich den Spieß herum gedreht, indem sie Donald angeschnauzt hatte und plötzlich alle Passanten nicht mehr mich, sondern ihn angeschaut hatten.
War das ein Grund, ihr aufzulauern und sie zusammen zu schlagen?
Wieder war es da!
Das aufgewühlte Gefühl, und mit ihm die Vorstellung, was alles passiert sein konnte!
Ich musste fast weinen.
Plötzlich aber schweiften meine Gedanken ab. Denn mir schoss eine furchtbare Vorstellung durch den Kopf.
Was, wenn er auch hinter mir her war?
Gestern hätte er mich nicht abfangen können!
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