Ich sagte nichts. Plötzlich drehte er den Kopf und warf einen kurzen Blick in den Flur, so als wollte er prüfen, ob die Schlafzimmertür noch zu war, bevor er leise sagte: »Mach dich nicht verrückt. Davon geht die Welt auch nicht unter!«
Ich schaute ihn nur an.
Er kam näher. Setzte sich neben mich auf mein Bett und schaute ebenfalls auf die Zimmertür, so wie ich es von meinem Platz aus tat.
»Habt ihr dabei wenigstens euren Spaß gehabt?«, fragte er plötzlich.
Meine Gesichtszüge bekamen ein leichtes Grinsen, das ich einfach nicht unterdrücken konnte. »Was willst du denn jetzt hören?«
»Eigentlich würde ich von dir am liebsten hören, das ich vielleicht nicht das Arschloch bin, für das du mich hältst, aber fürs erste, genügt mir auch eine Antwort auf meine Frage.«
Ich drehte den Kopf zur Seite und schaute ihn an. »Ich kenn dich doch gar nicht richtig!«
»Zumindest gut genug, um in mir das Arschloch zu sehen.«, er schaute mich ebenfalls an.
Ich zuckte nur unwissend mit den Schultern.
»Ich kann nichts dafür, dass dein Vater meine Tochter erzieht und ich jetzt hier bei dir bin. So ist das Leben nun mal!«, versuchte er zu erklären.
»Das Leben ist scheiße!«, murmelte ich leise.
»Das Leben ist nicht scheiße, nur unvorhersehbar.«, er lächelte. »Du musst lernen dich den Veränderungen anzupassen, anstatt gegen sie anzukämpfen.«
»Und du glaubst daran«
»Die Erkenntnis hat mich zwei Jahre Knast gekostet.«
Phillip erhob sich und ging zurück zur Tür.
Als er den Griff in der Hand hatte, sagte ich leise: »Wir hatten Genugtuung, das war alles was wir wollten und dafür stehe ich auch ein.«
Er nickte stumm und schloss die Tür, dann wurde es wieder still.
Das Jugendamt war ein Gebäude, das alleine schon beim bloßen Anblick, in mir eine Welle der Angst und des Schreckens auslöste, so wie ich es bei keinem anderen Gebäude verspürte, oder jemals gespürt hätte.
Am Ende eines großen Parkplatzes, am Rande des Stadtzentrums, eingefasst von breiten Straßen und einer altertümlichen Mauer im Hintergrund, stand das alte Haus, mit seinen unzähligen Dachgauben, die über den Platz hinweg starrten, mit einem bedrohlich, angsteinflößenden Blick. Als wollte es sagen, geh weg! Denn wenn du näher kommst, wird sich dein Leben ändern.
So war es auch an diesem Morgen, an dem ich folgsam neben meiner Mutter herlief.
Die Sonne schien vom Himmel und vermutlich würde es ein wunderschöner Tag werden, doch nicht für mich.
Nicht heute.
Nicht wenn ich daran denken musste, warum ich hier war und auf das düster wirkende Gebäude zuging.
Um über die Schandtaten hinweg zu täuschen und wenigstens oberflächlich einen guten Eindruck zu hinterlassen, hatte ich mein bestes Kostüm anziehen müssen.
Ich hasste dieses Ding.
Ein langes graues Kleid, mit einem schmalen, schwarzen Gürtel um meine Hüfte. Meine Haare hatte ich, mit viel Haarspray so geformt, das mir kein einziges davon in mein kindliches Gesicht fallen konnte. Dazu trug ich passende, dunkle Schuhe.
Meine Mutter hatte eine Stoffhose an, eine blaue Bluse und eine dünne, hellgraue Jacke, die sie halb geschlossen hielt.
Mit jedem Schritt, um den wir uns dem Gebäude näherten, wurde ich nervöser. Irgendwie bekam ich immer mehr das Gefühl, von hier fliehen zu wollen, doch das konnte ich nicht.
Meine Mutter würde mich umbringen!
Wir betraten die Stufen am Eingang. Meine Mutter öffnete die alte Holztür, die man gelb gestrichen hatte, und dann betraten wir das Gebäude, das im inneren ebenso alt war, wie es von außen, den Anschein machte und schlecht renoviert dazu. Zumindest wirkte es so, in den Augen eines Teenagers.
Der Holzboden knarrte bei jedem Schritt und selbst die Treppe, verkündete unsere Anwesenheit mit lautem Knarren, bei jedem Schritt, den meine Mutter und ich, auf dem Weg nach oben, machten.
In der ersten Etage, sah es genauso unfreundlich aus, wie im Eingangsbereich. Durch den verbauten Flur, gelangten wir schließlich zu dem Vorraum, den wir beide nur zu gut kannten. Wie oft ich hier schon gewartet hatte, konnte ich überhaupt nicht mehr sagen, doch heute war es anders.
Ich war nicht alleine.
Melanie war hier und auch sie hatte sich heraus geputzt.
Mit Stoffhose und Bluse, Schleife im Haar und neuen Schuhen.
Als wir beide uns sahen, kam sie auf mich zu und umarmte mich. Unsere Mütter wechselten nur ein kurzes "Hallo", dann wurde es wieder still.
Nach einer ganzen Weile, sagte Melanies Mutter, die gleich neben der Tür saß: »Ich war schon einmal drinnen. Es dauert noch einen Moment.«
Meine Mutter musterte die Frau, die sie vom Stuhl aus anschaute.
Sie trug ein teures, dunkelgrünes Kostüm, bestehend aus Jackett und Rock.
Überhaupt sah sie sehr gepflegt und Elegant aus. Meine Mutter kannte sie so überhaupt nicht. Für gewöhnlich, lief sie in abgewetzten Hosen, schlabbrigen Blusen und alten Schuhen herum. Selten das ihre Frisur wenigstens einigermaßen saß und jetzt schien es so, als würde dort eine Fremde sitzen.
Innerlich atmete meine Mutter durch und sagte dann: »Wir warten halt.«
Es wurde wieder still.
Zäh und schweigend floss die Zeit dahin.
Über eine halbe Stunde dauerte diese Geduldsprobe, bis die Tür aufging und Frau Schnitzer-Stein, eine schlanke, große Frau, herauskam und uns alle bat ihr zu folgen. Unter ihrem linken Arm trug sie zwei Mappen. Etwas irritiert ließen wir uns von ihr durch den Flur, zurück in einen anderen Raum führen, in dessen Mitte ein langer, moderner Tisch, mit gut einem Dutzend Stühlen stand.
Bilder mit den unterschiedlichsten Motiven hingen an den Wänden.
Kinderbilder aus verschiedenen Ländern und dazwischen Landschaftsmotive. An einer Seite, ließen drei große Fenster Licht hinein.
Doch auch wenn der Raum wesentlich angenehmer wirkte, als der düstere Flur, in dem wir die letzte halbe Stunde zugebracht hatten, war es hier überaus warm. Unangenehm Warm, wodurch der Raum an Annehmlichkeit verlor.
»Ich hoffe es stört sie nicht, wenn wir uns hier zusammensetzen!«, sagte Frau Schnitzer-Stein und öffnete dabei ein Fenster.
Niemand sagte etwas, alle setzten sich schweigend.
Ohne Frage eine Nebenerscheinung der ungewissen Situation, die sich plötzlich im Raum ausbreitete und die jeden einzelnen von uns veranlasste, sich in Schweigen zu hüllen.
Schließlich hatte jeder einen Platz am Tisch gefunden.
Melanie saß neben mir, meine Mutter daneben, während Melanies Mutter auf der anderen Seite des Tisches saß, mit dem Rücken zur Fensterfront.
Frau Schnitzer-Stein nahm an der Stirnseite Platz.
Immer noch dominierte Schweigen die Runde und auch als Frau Schnitzer-Stein, mit ihren dünnen, spinnenartigen Fingern, die beiden Akten öffnete, die sie mitgebracht hatte, änderte sich noch nichts daran. Dann plötzlich blickte sie auf, lächelte uns Mädchen an und sagte: »Na! Wieder mal hier!«
Wir beide nickten stumm und zustimmend.
Dabei fiel mir wieder auf, das die Frau etwas Seltsames an sich hatte. Sie sah so unscheinbar und unauffällig aus. Schlank, nicht geschminkt, die Haare ungepflegt und doch besaß sie eine so warme und angenehme Stimme, das einem ein kalter Schauer über den Rücken lief, wenn sie mit einem redete.
»Tja, also diesmal stellt sich irgendwie die Frage, was wir machen!«, sie hielt inne und blätterte in meiner Akte. Ich konnte es daran erkennen, dass mein Name an der Seite der Mappe stand. Die andere Mappe gehörte Melanie.
Beide waren wir keine unbeschriebenen Blätter, doch etwas wirklich Schlimmes, hatten wir noch nie angestellt. Dennoch fühlte ich, wie ich anfing zu zittern.
Um dies zu verbergen, nahm ich meine Hände vom Tisch und legte sie auf meine Oberschenkel, so als wollte ich meine zitternden Knie damit festhalten.
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