Bachmanns ›Trotta-Figur‹ in Drei Wege zum See ist nicht nur ein literarischer Wiedergänger Joseph Roths und ein Relikt der Habsburger Tradition, sondern auch ein zeitgemäßer Kritiker der sechziger Jahre, der die geschichtlichen Erfahrungen der letzten dreißig Jahre nach Roths Tod reflektiert; Amérys Züge an dieser Figur sind evident. Da Améry als kritischer und aufmerksamer Leser in Simultan keine geschichtliche Verfälschung erkennt, sondern trotz Bachmanns entgegengesetzter Erfahrung der »Fremde unter nicht weiter dramatischen Umständen« (Améry, G 201) tiefe Solidarität zu ihr empfindet, nimmt er den Vorwürfen gegen Bachmann ihre Schärfe. 115
Die wichtigste Bezugsquelle der österreichischen Literaturtradition in Simultan bezeichnet der Titel von Amérys Rezension: »Trotta kehrt zurück«: Joseph Roths ›Trotta‹-Romane.
Joseph Roths ›Trotta-Romane‹
Eine Epoche, die aus ihrer läppischen Lächerlichkeit unmittelbar in ein blutiges Grauen hineintänzelte – eine Epoche, die so verlogen war, daß sie die Wahrheit ihres eigenen Untergangs gar nicht mehr erlebte. (Roth 4, 502)
Ingeborg Bachmann hat bestätigt, daß sie mit ihrer letzten Erzählung an Joseph Roths sogenannte ›Trotta-Romane‹ Radetzkymarsch (1932) und Die Kapuzinergruft (1938) anschließt. In einem Interview antwortet sie auf die Frage, ob sie das Thema Österreich dort wieder aufnehmen möchte, wo Joseph Roth es hinterlassen habe: »Ich habe nicht umsonst seine Figur des Trotta wieder aufgegriffen. Ich will sie weiterführen. Roths »Kapuzinergruft« endet damit, daß dieser Trotta, als 1938 die Deutschen kommen, weiß, daß seine Welt untergeht. Bei Roth erfahren wir nun, daß er sein Kind ins Exil nach Paris schickt. Nun habe ich mir überlegt: was geschieht weiterhin mit diesem jungen Trotta? Bei mir geht sein Leben weiter in den fünfziger Jahren, das habe ich in dieser Erzählung ausschnittsweise aufgeschrieben.« (Bachmann, GuI 121f.)
Joseph Roth galt als der große Beschwörer und Verklärer der k.u.k.-Monarchie. Sein künstlerisches Schaffen fällt exakt in die Zwischenkriegszeit, die Claudio Magris als deutlichste Epoche des habsburgischen Mythos bestimmt hat, 116und seine Texte wurden bis in die Mitte der sechziger Jahre nahezu ausschließlich als Verklärung Alt-Österreichs rezipiert. 117Die Verfilmung des Radetzkymarsches durch Michael Kehlmann im Jahre 1965 entfachte eine heftige Diskussion in bezug auf Roths politische Ansichten und markiert eine Zäsur im tradierten Roth-Bild. 118Die Roth-Renaissance setzte dann durch die Erstpublikationen der Romane Der stumme Prophet (1966) und Das Spinnennetz (1967), der Briefausgabe (1970) und der feuilletonistischen Sammlung Der Neue Tag (1970) ein. 119Die Niederschrift und die Veröffentlichung des Simultan-Bandes fallen in diese Zeit und können als Bachmanns Beitrag zu Roth und dessen Verhältnis zur österreichischen Tradition verstanden werden.
Bachmanns Reminiszenzen an Roths österreichische ›Staatsromane‹ sind in der Folge mehrfach Gegenstand von Untersuchungen gewesen. 120Es wurde der Vorwurf erhoben, Bachmann verkläre – wie Roth – die österreichische Vergangenheit in dieser Erzählung: »Der anachronistische Bezug zum Alt-Österreich Roths impliziert eine unhistorische Rezeption Roths« 121oder es sei »Bachmann’s most ›patriotic‹ prose piece« 122Almut Dippel hingegen zeigt in ihrer Untersuchung, daß Bachmann Roths Werk nicht verklärt, sondern kritisch fortschreibt. Darüber hinaus hat sie die Verklammerung der Simultan-Erzählungen herausgearbeitet, und zwar aus der Perspektive der Rothschen Romane Radetzkymarsch und Kapuzinergruft als Prätexte. 123Anknüpfend an diese Studie soll Bachmanns Simultan-Zyklus im Kontext des »Todesarten«-Projekts als souveräner, Malina ebenbürtiger Text gelesen werden, der als zuletzt entworfene und abgeschlossene Publikation die Summa ihres Werkes darstellt. Drei Wege zum See habe, so Robert Pichl, gar den »Charakter eines Resümees aus dem gesamten Spätwerk, in dem die Dichterin die Summe aus ihrem Welt- und Menschenbild und dessen formkünstlerischen Vermittlungsmöglichkeiten zieht«. 124Insbesondere die Schlußerzählung, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung zur literarischen Tradition steht, zeige, »wie kunstvoll dabei gender-Problematik, Geschichtsbewußtsein, Intertextualität und österreichische Tradition von Ingeborg Bachmann miteinander verflochten werden« 125.
Die Herausgeber des »Todesarten«-Projekts begründen die Aufnahme des Zyklus’ mit den vielschichtigen Verknüpfungen zu Malina wie den fragmentarisch gebliebenen Romanen und unterstreichen seine generelle Bedeutung für Bachmanns Spätwerk. Simultan ist einer der wesentlichen Texte aus Ingeborg Bachmanns großangelegtem Projekt: der Comedie humaine der Nachkriegszeit in Österreich.
Simultan und Bachmanns Comédie humaine
Das Werk, das ich unternommen habe, wird so lang wie eine Weltgeschichte, und ich war seinen noch verborgenen Sinn, seine Prinzipien und seine Moral schuldig. 126
Honoré de Balzac
Bachmann knüpft mit dem Projekt einer Comédie humaine nicht nur an Balzac, sondern auch an Roths Comédie humaine der Zwischenkriegszeit an; die literarische Erfassung Frankreichs zwischen Erster und Zweiter Republik überträgt Roth auf die Erste Republik Österreichs und Bachmann wiederum auf die österreichische Nachkriegszeit als ihre Gegenwart, die Zweite Republik Österreichs.
Ingeborg Bachmann gibt in einem Interview aus dem Jahre 1969 Auskunft über das geplante literarische Großprojekt. Honoré de Balzacs Vorrede zur Menschlichen Komödie, der »ein großes Gemälde der Gegenwart« entwerfen möchte, das »dem innersten Wesen ihres Jahrhunderts abgelauscht« 127sei, klingt deutlich an: »[…] daß es ein Buch für mich geben wird, das man später natürlich einen Roman nennen wird. Für mich ist es kein Roman, es ist ein einziges langes Buch. Es wird mehrere Bände geben, und zuerst einmal zwei, die wahrscheinlich gleichzeitig erscheinen werden. Es heißt ›Todesarten‹ und ist für mich eine einzige große Studie aller möglichen Todesarten, ein Kompendium, ein Manuale, wie man hier sagen würde, und zugleich stelle ich mir vor, daß es das Bild der letzten zwanzig Jahre geben könnte, immer mit dem Schauplatz Wien und Österreich.« (Bachmann, GuI 65f.)
Ob jedoch die Simultan-Erzählungen in das Balzacsche Modell von Bachmanns »bürgerliche[m] Totentanz« 128hineingehören, ist bei Erscheinen der Todesarten kontrovers diskutiert wurden. Die Simultan-Erzählungen müßten »mit ihrem entschlossenen Leichtigkeits-Parlando ja eher ›Lebensarten‹, zur Not auch ›Überlebensarten‹ betitelt werden« 129und gehörten daher nicht zu den Todesarten, und es werden »der kaum übersehbare Wechsel der Tonart« 130gegenüber Malina und den Todesarten-Fragmenten betont oder die nicht abgegoltenen finanziellen Verpflichtungen Bachmanns gegenüber dem Piper-Verlag angeführt. 131Die Verflechtungen mit dem Gesamtprojekt sind jedoch zu deutlich, als daß Simultan herausgelöst betrachtet werden kann. Die Herausgeber des »Todesarten«-Projektes begründen die Aufnahme von Simultan folgendermaßen: »Die vermeintlichen ›Abfälle‹ der ›Todesarten‹ (Bachmann, TP 4, 17) stellen also sowohl durch die motivische Verflechtung mit den ›Todesarten‹-Romanen und die Einbindung der Figuren in deren Figurennetz als auch poetologisch einen Teil des übergreifenden ›Todesarten‹-Projekts dar, indem sie dessen Dimension einer kritischen Geschichtsschreibung des Alltags in den Mittelpunkt rücken.« (Bachmann, TP 4, 548f.)
In ihren poetologischen Entwürfen für den Simultan-Zyklus erklärt Bachmann, daß »auch in dieser Zeit wie in früheren Zeiten die Frauen dieser Zeit, oder was die Franzosen les moeurs nennen, beschrieben« (Bachmann, TP 4, 7f.) werde, um mehr zu »hinterlassen als Porträts von diesen Frauen, sondern eben die Sitten einer Zeit.« (Bachmann, TP 4, 11) Damit verweist sie deutlich auf Balzacs Begriff ›les moeurs‹, der »Geschichte der Sitten« 132, die dieser in seiner Vorrede zum Programm seines Zyklus’ macht. Bachmann fordert in denselben Notizen zu Simultan, »die wahren Geschichten zu erkennen, die sich hinter den gespielten abspielen« (Bachmann, TP 4, 9), und verweist somit wiederum auf Balzacs Vorrede: »Wenn man den Sinn dieser Dichtung recht erfaßt, so wird man erkennen, daß ich den ständigen, täglichen, geheimen oder offen zutage liegenden Tatsachen, den Handlungen des individuellen Lebens, ihren Ursachen und ihren Prinzipien die gleiche Bedeutung beilege, die bisher die Historiker den Ereignissen des öffentlichen Lebens der Nationen beigetragen haben.« 133Bachmann führt ihren Erzählzyklus auf diese Weise theoretisch mit Balzacs Modell der Comédie humaine wie auch mit dem »Todesarten«-Projekt zusammen. 134
Читать дальше