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Als ich das Licht der Welt erblickte, schneite es, obzwar oder wohl eher, weil es April war.
Vom naheliegenden Kirchlein läutete das einzige Glöckchen zur Taufe eines unlängst geborenen Mitmenschen, der mir bis heute leider unbekannt geblieben ist. Denn es war Sonntag, nachmittags um zwei.
Laut Schwangerschaftskalender hätte ich erst fünf Tage später zur Welt kommen dürfen. Aber das wäre dann Freitag, der 13. April 1945 geworden. Da bin ich denn doch lieber ein Sonntagskind, wenn auch ein voreiliges. Auch so war ja die Welt damals unerfreulich genug.
Mutter hatte sich seit der vergangenen Nacht ziemlich abgeplagt mit mir. Auch Dr. Krause, unser Familienarzt, und Frau Katzer, die Hebamme, hatten sich alle erdenkliche Mühe gegeben, mir den Eintritt ins Erdenleben zu ermöglichen. Denn am Tag vorher hatte sich Mutter, wie das Hochschwangere anscheinend besonders gern tun, einfach etwas übernommen mit den tausend Hausfrauenpflichten, die DAVOR noch unbedingt zu erledigen sind, so dass es deswegen in der Nacht losgegangen war.
Vierzehn Stunden Geburt sind eine im Grunde übermenschliche Leistung. Mutter war deshalb froh, als es endlich vorbei war. Ich erschien mit zweifach um den Hals geschlungener Nabelschnur und begann dennoch zu leben.
So glücklich ich bin, dass ich das Erdenreich an einem Sonntag betreten durfte, weiß ich also, dass die Initiative dazu nicht von mir aus ging. Vielmehr wurde ich gewaltsam aus dem schützenden Schoss herausgedrängt, wie alle Menschen vor mir, weil die Anstrengung, solch eine reife Frucht mit sich herumzuschleppen, auch einer erwartungsfroh liebenden Mutter nicht länger als von Gott verordnet zugemutet werden kann.
Es wurde berichtet, dass wir beide, Mutter während, ich dagegen nach der Geburt, kräftig geschrien hätten. Das finde ich beruhigend. Ich meine, dass ich gleich von Anfang an mit meiner Mutter so prinzipiell übereinstimmte.
An den kurzen Besuch meines Vaters am Tage nach meiner Geburt, der ihm ohne Frage viel bedeutete, erinnere ich mich nicht mehr. So etwas können dagegen die Leute aus den Geschichten von Günter Grass, was ich großartig finde. Allerdings verdanke ich diesem Besuch höchstwahrscheinlich meinen Namen. Weder Mutter noch Vater haben mir jedoch jemals erklärt, welche Gründe sie bewogen, mir diesen berühmten Namen zu verleihen. So bin ich nur auf Vermutungen angewiesen.
Einerseits war mein Vater eingefleischter Lutheraner. Martin Luther war für ihn ein Banner. Er bedeutete für ihn mehr, als für die Katholiken der Papst.
Am 4. April 1968 wurde dieser Name noch einmal sehr populär, weil der schwarze Referend Martin Luther King in Memphis ermordet wurde. Heute freuen wir uns auf den 500. Geburtstag des Augustinermönches, der in unserem Land voraussichtlich ganz groß gefeiert werden wird; unter Führung der Repräsentanten der Partei der Arbeiterklasse versteht sich.
Aber dies konnte es ja damals nicht sein. Schon eher die Tatsache, dass der Vater meines Vaters Martin geheißen hatte. Vater stand auf Sippe, hatte auf diesem Gebiet etwas geforscht und einen ansehnlichen Stammbaum zusammenbekommen. Großvater väterlicherseits war übrigens Apotheker, der von Mutters Linie Lehrer. Ich weiß nicht, ob ich auf eine solche Mischung stolz sein muss. Die Erbanlagen sollen in der Regel immer eine Generation überspringen. Man sagt, dass ich Mutters Vater ähnlich sehe. Immerhin wäre es doch ein schönes Alibi hinsichtlich meiner Entwicklungsanlagen und für einen anständigen IQ. Den Rest, das habe ich mittlerweile gelernt, darf ich ruhigen Gewissens auf meine Umwelt schieben. Du siehst, ich kann wirklich nichts dafür...
Was meine frühe Kindheit anbetrifft, bin ich nicht sicher, ob ich mich an bestimmte Geschichten selber erinnere, ob ich sie aus den Tagebuchaufzeichnungen meiner Mutter kenne oder ob sie nur von ihren Erzählungen herrühren, die sie oft, voller dichterischer Freude und Übertreibungslust, dem näheren und ferneren Bekanntenkreis auftischte. Natürlich war ich irgendwie großartig und ein ganz besonderes Kind. Welche Mutter möchte bei ihrem Kind an dieser Tatsache zweifeln?
Es ist allerdings wichtig festzustellen, dass es sich bei mir um eine schöne Kindheit handelte. Trotz oder vielleicht gerade wegen des täglichen Kampfes um ein bisschen Essen und Anzuziehen. Was waren wir damals glücklich über Kleinigkeiten!
Und wir lernten früh, uns selbst zu kümmern, lernten, dass es ohne Mühe nichts gab auf dieser Welt. Wie trist ist es doch dagegen heute oft, nachdem dafür gesorgt wurde, dass alle Maßstäbe verloren gegangen sind.
Das Vaterhaus war zweistöckig, mit ausgebautem Boden wegen der Flüchtlinge, die bis 1952 bei uns wohnten. Es war gelb abgeputzt, wie viele dieser Bergarbeiterhäuser im westerzgebirgischen Steinkohlegebiet. An einigen Stellen bröckelte der Putz, aber sonst war es stabil.
Zum Haus gehörte noch ein massiver Schuppen, der die gleiche Farbe hatte. Der Hof, in welchem ein sehr hoher Apfelbaum stand, wurde nach hinten von der Hecke des angrenzenden Friedhofs geschützt und an der Seite, wo der Hundezwinger stand, von einem mannshohen Bretterzaun mit Tor. Nach vorn, der Straße zu, gab es einen großen Garten mit Wiesen, Obstbäumen und ganzen Rabatten von Haselnusssträuchern.
Im Erdgeschoss wohnten Leute, an die ich mich nicht weiter erinnere.
Wir wohnten im Obergeschoss.
Am besten besinne ich mich auf die große Wohnküche mit dem gewaltigen, gesetzten weißen Kachelherd, der einen Sims voller Töpfe und irdener Behältnisse, einen eingebauten Heißwasserbehälter, der ständig gelötet werden musste, und eine tiefe Backröhre besaß, die mir lange Zeit eine Art verwunderter Ehrfurcht einflösste, wegen der erstaunlichen Verwandlungen, die oftmals in ihrer Gluthitze stattfanden. Weiter enthielt unsere Küche eine blau lackierte Eckbank mit Tisch, auf und unter der sich nach meiner heutigen Erinnerung ein wichtiger Teil meiner Kindheit abspielte.
Ein riesiger Apfelbaum schaute durch die Fenster in die Küche. Er gab die Jahreszeiten an: Grüne Knospen und zartrosa Blüten im Mai, winterharte Äpfel, die sehr schwer zu holen waren, im Herbst und knorrige, schneebedeckte Äste im Winter. Denke ich zurück, so umgibt mich der Geruch vom Stearin der Haushaltskerzen wegen der Stromsperren, die regelmäßig stattfanden, von Molke, denn der Quarksack hing immer am Ofen, und das Milchwasser wurde selbstverständlich zur weiteren Verwendung aufgefangen, und von Schmierseife, mit der Mutter unsere Wäsche wusch. Alles für immer untrennbar in meinem Gedächtnis mit diesem Raum verbunden.
Der erste Monat meiner Existenz war für mich und meinen Geburtsort einigermaßen unruhig. Mehrfach zogen amerikanische Einheiten hindurch, ohne sich jedoch festzusetzen. Einige Male versteckten sich nachts versprengte deutsche Einheiten in den Häusern, um gleich am anderen Morgen wieder zu verschwinden. Ab und zu überflogen uns amerikanische oder britische Bomber, die in Richtung Dresdner Raum oder Chemnitz unterwegs waren, beziehungsweise von da zurückkehrten. Einige entluden ihre Fracht sogar in unserer Nähe, wahrscheinlich, weil sie von deutschen Jägern bedrängt worden waren. Sie landete hinter dem Friedhof auf den Feldern, machte viel Getöse aber richtete weiter keinen Schaden an, so dass wir mit dem Schrecken davonkamen.
Ende April wurde es ruhig. Die Amerikaner waren aus Hohenstein-Ernstthal abgezogen und die Russen eingerückt. Dank dieser Schutzmächte und meiner Mutter, unseres relativ großen Gartens und einigen Viehzeugs wuchs ich alles in allem wohlbehütet auf und hatte auch zu essen.
Aber wohl nicht immer, denn ich weiß noch deutlich, dass ich oft Hunger hatte. Mutter machte mir aber klar, dass man mit Brot und Marmelade sparsam umzugehen habe. Doch gab es ja glücklicherweise die Stromsperren.
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