Ich senkte den Blick, weil ich wusste, dass er recht hat. Gott ja, ich hab dem Typen eine gelangt, aber so richtig, und danach blutete er aus der Nase, und die Frau fing hysterisch an zu schreien. „Okay, danke. Das ist echt in Ordnung von dir, Winni.“
„Und es gibt da noch etwas“, sagte Winni.
„Da bin ich aber mal gespannt.“
„Wir haben in unserem Lokal feste Arbeitszeiten, und die sind verbindlich. Auch für dich, Mischa. Ich bin nicht bereit, dein ewiges Zuspätkommen noch länger hinzunehmen.“
„Wenn das deine größte Sorge ist, kein Problem, Winni. Dann komme ich ab sofort pünktlich. Versprochen. Ich werde sogar so pünktlich sein, dass du deine Rolex danach stellen kannst.“
„Kann ich mich drauf verlassen?“
„Absolut.“
11
Dank der Fahrkünste meines türkischen Rennfahrers halten wir um fünf Minuten nach Elf vor dem Hafenblick. Die einzige Frage, die ich mir stelle, ist die, ob fünf Minuten ausreichen, um Winni platzen zu lassen. Wird er seine Drohung wahrmachen und mich rausschmeißen?!
Ich springe aus dem Auto, schmeiße die Tür hinter mir zu, reiche dem Fahrer einen großen Schein durchs Fenster, warte gar nicht aufs Wechselgeld, sondern beuge mich vor und drücke ihm einen Kuss auf die Lippen.
Dann bin ich auch schon weg und renne die Stufen zum Hafenblick hoch. Ich spurte über die Terrasse, wo tatsächlich schon die ersten Gäste sitzen. Ich sehe Giorgio, der drinnen hinter der Theke steht und Gläser putzt und mir durch die große Scheibe entgegenlächelt, vermutlich der letzte süße Trost, bevor ich rausgeworfen werde.
Ich stürme durch die Tür, bin völlig außer Atem. Giorgio macht eine beruhigende Handbewegung und sagt mit seiner rauen, schönen Stimme: „Bongiorno, Mischa. Warum rennst du so? Es ist viel zu warm, um zu rennen…“,
„Warum ich renne?“, keuche ich. „Na, wegen Winni. Weißt du, Giorgio, ich brauche diesen Job, und wenn ich Pech habe, dann bin ich ihn jetzt los. Immerhin bin ich schon wieder fünf Minuten zu spät gekommen.“
Giorgio kommt hinter der Theke hervor, lacht und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. „Winni ist noch gar nicht da. Hat einen Termin beim Steuerberater. Also, Bella, entspann dich. Und wenn du das getan hast, dann geh raus und bedien unsere Gäste.“
Ich sehe Giorgio an und kann es nicht fassen, der ganze Stress war umsonst. Das darf doch nicht wahr sein!
Ich lache laut auf und sage: „Mann, ist das schön, dich zu sehen, Giorgio. Du hast recht, ich werde die Gäste bedienen. Aber erst möchte einen schönen Kaffee, dann geht’s an die Arbeit.“
„Si, Bella. Ich mache dir eine wunderbare Kaffee, und ich freue mich auch, dich zu sehen!“
12
Zwei Stunden später weiß ich, dass Giorgio mir leider zu viel versprochen hat, als er meinte, ich soll mich entspannen. Denn mit Entspannung läuft heute gar nichts, ganz im Gegenteil. Die Schicht hat gerade erst angefangen und ich fühle mich schon wie ein Sträfling auf der Teufelsinsel.
Das liegt in erster Linie daran, dass Hamburg um diese Jahreszeit gestopft voll mit Touristen ist, Touristen aus Amerika, aus Japan, aus Schweden, aus Bayern, aus Afrika. Und alle, wirklich alle wollen am Hafen spazieren gehen und alle wollen sie danach Kaffee trinken oder ein Bier zischen oder was essen, und alle kommen sie dafür ausgerechnet in den Hafenblick. Klar, der Laden hat ja auch eine geile Terrasse mit einem geilen Ausblick, aber Scheiße, es bedeutet, dass ich rennen muss wie eine Verrückte!
Zu allem Überfluss ist Winni inzwischen aufgetaucht, und er denkt gar nicht daran, mitzuhelfen. Wie üblich sitzt er drinnen an einem der Tische, trinkt eisgekühlte Limonade, fächelt sich Luft zu und liest in irgendwelchen Papieren. Dazu macht er ein wichtiges Gesicht, das ist seine Lieblingsbeschäftigung, vermutlich sogar das einzige, was er überhaupt kann. Ein wichtiges Gesicht machen.
Ihr müsst euch Winni so vorstellen: Er ist klein, etwas zu dick, hat ein rundes Gesicht und gegelte Haare. Er trägt eine super teure Sonnenbrille, die ihm eigentlich nicht steht. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder, eine Villa in Blankenese, ein Motorboot in Wedel, zwei Luxus-Autos. Er steht auf Geld, und auf sonst eigentlich gar nichts. Ach ja, und Winni ist bis über beide Ohren verliebt, und zwar in sich selbst.
Am schlimmsten aber ist, dass er die ganze Zeit rumschreit, sobald er einen von uns Angestellten sieht. Bewegt euch schneller, vergesst bloß keine Bestellung, seid immer nett und freundlich …
Früher oder später kommt natürlich die ultimative Frage, die er jedesmal stellt: Wofür bezahle ich euch eigentlich?! Das kann ich ja nicht mit ansehen, wie langsam ihr seid. Soll ich vielleicht alles selbst machen?
Ja, Winni, das wäre eine super Idee. Dann wüsstest du nämlich endlich mal, wie anstrengend das ist, was wir tun.
13
An Tagen wie diesen ist das Hafenblick nicht nur total überfüllt, sondern leider sind die meisten Gäste auch noch so eine Art Zombies, ekelige Kreaturen aus der Unterwelt
Kleine Kostprobe?
Gast 1: Hallo, Fräulein, ich habe vor einer halben Stunde einen Cappuccino bestellt.
Ich: Erstens heiße ich nicht Fräulein, und zweitens war das nicht vor einer halben Stunde, sondern vor fünf Minuten.
Gast 2: Hallo, Sie da! Können Sie uns bitte Parmesan zu den Spaghetti bringen. Und der Salat ist kalt.
Ich: Was soll das heißen, der Salat ist kalt? Wollen Sie ihn gekocht haben?
Gast 1: Auch fünf Minuten sind zu lang. Schließlich bekomme ich kein Geld dafür, dass ich hier sitze und warte, aber Sie bekommen Geld dafür, dass Sie mich ordentlich bedienen.
Ich: Sie haben sich aber an einen anderen Tisch gesetzt, und als ich Ihnen Ihren Cappuccino bringen wollte, habe ich Sie nicht gesehen. Ich dachte, Sie wären gegangen...
Gast 1: Vielleicht sollten Sie nicht denken, sondern arbeiten.
Gast 2: Mit kalt meine ich zu kalt. Der ist ja geradezu gefroren, der Salat.
Ich: Dann bestellen Sie sich eine Suppe. Die ist schön warm.
Gast 2: Werden Sie mal nicht unverschämt! Ich habe empfindliche Zähne, wissen Sie, und darum möchte ich meinen Salat in Raumtemperatur serviert bekommen.
Gast 3: Entschuldigung! Hallo! Zahlen, bitte, aber pronto, wir haben heute noch etwas vor.
Ich: Bezahlen Sie bitte drinnen, wenn Sie es eilig haben.
Gast 4: Haben Sie etwa keine Pilzgerichte? Ja, wieso denn nicht?
Gast 2: Ich habe freiliegende Zahnhälse, kennen Sie so etwas? Sehr unangenehm. Wenn Sie allerdings so wie ich zugleich mit Parodontose zu tun haben, dann…
Gast 1: Was ist denn jetzt mit meinem Cappuccino?
Gast 3: Ich habe ja wohl ein Recht darauf, am Tisch zu bezahlen. Und glauben Sie bloß nicht, Sie bekommen Trinkgeld.
Gast 4: Immer wollen die Leute nur Pizza und Pasta. Ich aber nicht. Darum ist mir Ihr Lokal empfohlen worden, und jetzt muss ich feststellen, dass sie nicht einmal Pilzgerichte haben.
Gast 5: Behelligen Sie doch die arme Bedienung nicht mit Ihren lächerlichen Zahnproblemen. Und Sie da, dass Sie Pilze mögen, interessiert niemanden! Lassen Sie das Mädchen lieber ihre Arbeit tun – dann würden wir vielleicht auch einmal bedient.
Gast 4: Und die Auswahl an Fisch ist auch dürftig. Und das in einem Lokal, das direkt am Wasser liegt.
Gast 6: Hallo, Bedienung! Sind Sie eigentlich taub? Wir hätten gerne drei Bier. Und zwar heute noch.
Vielleicht gibt es Menschen, die so etwas aushalten. Aber das müssen Leute sein, denen ihre Seele operativ entfernt wurde. Leute, die keine Gefühle haben und die sich halt alles gefallen lassen.
Aber so jemand bin ich nicht.
Ich habe meine Grenzen. Ich kann mir nicht jeden Scheiß reinziehen. Auch nicht von Gästen in dem Lokal, in dem ich arbeite.
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