„Um elf.“
„Es ist elf.“
„Nein, noch nicht ganz. Also: Wenn wir es in drei Minuten dorthin schaffen, zahle ich dir den doppelten Fahrpreis. Okay?!“
Mein hübscher, kleiner, türkischer Chauffeur starrt mich an, als würde ich mich gerade in ein Alien verwandeln.
„Ist das dein Ernst!?“, fragt er.
„Meinst du, ich mache Witze? Sehe ich etwa so aus?“
„Nein. Tust du nicht.“
Anstatt die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und loszufahren, tut er – nichts! Oh Gott! Warum muss immer mir so etwas passieren? Warum muss immer ich an die begriffsstutzigsten Typen der Welt geraten?
„Mann!“, schreie ich ihn an. „Jetzt fahr einfach los. Ich muss in einer Minute bei meinem Job sein oder ich stecke in den ernstesten, tiefsten, Schwierigkeiten aller Zeiten. Also gib verdammt nochmal Gas!“
Mein Fahrer lächelt. Ganz zart. Und dabei glitzert etwas in seinen Augen wie tausend Sterne an einem Nachthimmel. Mann, hör auf damit, mit so etwas kann ich nicht umgehen! Nicht im Moment! Ich verliebe mich und dann vergesse ich alles andere, und dann stecke ich in noch viel größeren Schwierigkeiten.
„Bitte!“, sage ich leise. „Bitte.“
Erst jetzt scheint er zu merken, dass es wirklich ernst ist. Das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht und macht einer wilden Entschlossenheit platz. „Kein Problem“, sagte er. „Schnall dich an. Es geht los. Wir heben ab.“
9
Der kleine, süße Taxifahrer drückt das Gaspedal durch, und der Wagen schießt nach vorne. Dann sausen wir auch schon mit Schallgeschwindigkeit durch die Straßen von Sankt Pauli und es fühlt sich an, als würden wir in einer großen Achterbahn sitzen oder in einem Learjet oder einer Spaceshuttle. Die Reifen quietschen, und die Leute am Straßenrand schreien hinter uns her, und ich lehne mich im Sitz zurück und zünde mir die nächste Zigarette an. Meinem kleinen süßen Fahrer zünde ich auch eine an und reiche sie ihm rüber, und er nimmt sie und nickt mir zu, und jetzt weiß ich, dass er genauso in mich verliebt ist wie ich in ihn.
Wir lächeln und ich lege ihm die Hand aufs Bein und er steuert den Wagen lässig mit nur zwei Fingern am Lenkrad, und dass obwohl wir Geschwindigkeitsrekorde aufstellen. Er fährt falschherum durch Einbahnstraßen und über rote Ampeln und durch Schleichwege, und alles mit hundert Stundenkilometern. Ab und zu sieht er zu mir rüber, unsere Blicken treffen sich, wir stehen in Flammen wie Kometen, die in der Atmosphäre verglühen. Es ist uns beiden egal. Die ganze Aktion ist verrückt, wir gehen ein bescheuertes Risiko ein. Aber das spielt überhaupt keine Rolle, denn das zwischen uns ist wie Musik.
10
Ich muss an meine letzte Auseinandersetzung mit Winni denken. Ich weiß nicht mehr, warum wir aneinander geraten waren, aber ich habe ziemlich ausgeteilt und ihn beschimpft, und es ist ein Wunder, dass er mich nicht schon damals gefeuert hat.
Aber statt mir die Papiere in die Hand zu drücken und mir den Weg zur Tür zu weisen, hat er sich an einen der Tische gesetzt und sich von Giorgio, der im Hafenblick den Tresen macht, zwei Fernet bringen lassen. Dann sagte er mit einer ganz ruhigen, knisternden, merkwürdigen Stimme: „Setz dich mal zu mir, Mischa. Bitte, hier an meinen Tisch.“
Ich rührte mich nicht von der Stelle. Ich war misstrauisch, was das jetzt wieder für ne Tour werden sollte.
„Na, komm schon“, sagte Winni, immer noch mit dieser seltsamen Stimme. „Das Kriegsbeil ist erst einmal begraben. Versprochen. Setz dich einfach hin …ich werde dich schon nicht beißen.“
Ich war immer noch geladen. Und auf solche Kriegsbeil-ist-begraben-Sprüche stehe ich überhaupt nicht. Giorgio kam dann zu mir, legte seine Hände auf meine Schultern und sah mir in die Augen. Giorgio hat umwerfende, dunkle Italiener-Augen, und die Tatsache, dass er verheiratet ist, hält uns nicht davon ab, uns ab und zu abends nach der Schicht zusammen zu besaufen. Und dann machen wir auch ein bisschen rum, also wir küssen uns, weil wir uns irgendwie lieben, er mich jedenfalls, und ich ihn auch, aber echter Sex läuft nicht. Weil er halt seine Frau hat, und weil er sagt, dass seine Ehe das nicht überleben würde. Jedenfalls hat Giorgio mir in dem Moment in die Augen gesehen und gesagt: „Hör auf Mischa! Hör auf, vor allem wegzurennen, was schwer ist und worauf du keine Lust hast. So läuft es nicht im Leben. Also setz dich verdammt nochmal an den Tisch und rede mit Winni, sonst bist du noch heute auf der Straße, glaub mir.“
Das einzige, was in solchen Momenten hilft, jedenfalls bei mir, ist Luft anhalten. Nicht atmen. Kein bisschen. Und zwar so lange, bis es nicht mehr geht. Notfalls halte ich mir sogar die Nase und den Mund zu. Bis ich ahne, dass ich gleich sterben werde. Und dann, wenn ich es kaum noch aushalte und mir schon schwarz vor Augen wird, dann mache ich es noch ein bisschen länger, noch eine Sekunde oder zwei. Na ja, und irgendwann geht es dann wirklich nicht mehr, dann gebe ich auf, dann lasse ich einfach los und hole Luft, ganz tief, ich sauge mir die Lungen voll, und ich denke an nichts anderes als daran, zu atmen, für eine Minute nur atmen.
Wenn ich Glück habe, ist es danach ein bisschen ruhiger in meinem Kopf. Dann weiß ich wieder, was richtig und was falsch ist.
An dem Tag habe ich es auch so gemacht. Ich habe die Luft angehalten und wurde ruhiger. Winni und ich tranken jeder zwei Fernet. Wir wurden lockerer, und ich war entspannt und konnte ihm zuhören.
„Weißt du, Mischa, es gibt ein paar Dinge, die gehen einfach nicht. Und ich denke, das weißt du ganz genau.“
„Wovon redest du, Winni?“
Giorgio, der hinter mir stand, kniff mir in die Schulter. Ich hielt daraufhin die Klappe. Winni fuhr fort. „Zum Beispiel diese Sache gestern, mit den Leuten an Tisch Elf. Glaubst du, ich habe das nicht mitbekommen? Was bitte schön, denkst du dir bloß? Soll ich dir so etwas durchgehen lassen!? Das kann ich nicht. Wir sind ein Lokal und wir leben von unseren Gästen …darum müssen wir uns Mühe geben, selbst wenn es uns ab und zu schwer fällt.“
„Ich weiß schon: Der Kunde ist König“, sagte ich, und klar, es klang ziemlich ätzend. „Aber, Winni, weißt du, wie das war mit denen an Tisch Elf? Die bestellen eine Cola und ein Bier. Gerne, habe ich gesagt und die Getränke gebracht. Dann winken die mich noch einmal heran und wollen die Karte. Ich bringe ihnen die Karte. Sie bestellen einen Salat und einmal Antipasti. Ich habe die Sache gerade gebracht, dann winken sie wieder und wollen noch ein Mineralwasser. Auch das geht klar. Ich liefere das Wasser ab, dann heißt es auf einmal: Und noch ein Bier. Ich bringe das Bier. Dann sagen sie, dass sie ihren Salat nicht mit Öl und Balsamico bestellt hätten, sondern mit American Dressing. Das war glatt gelogen, aber gut, ich verspreche ihnen, einen neuen zu bringen. Als ich dann zum zehnten Mal zum Tisch komme und der Typ meint, dass das Bier schal wäre und das Besteck dreckig, und dass sie darum für das Essen nicht bezahlen würden, wurde ich ein wenig ungeduldig. Mehr nicht, Winni. Ich habe ganz freundlich zu dem Typen gesagt, dass wir gerade ein frisches Fass angeschlagen hätten, und dass es nicht schal sein könne, das Bier, worauf er sein Glas nimmt und mir das ganze Zeug vor die Füße kippt. Na ja, und daraufhin habe ich...„
„Eben, Mischa. Ich weiß, was du getan hast. Du hast den Typen geohrfeigt und seiner Frau den Salat übers Kleid gekippt. Und genau das geht nicht. Eine Kellnerin muss Geduld haben, ganz egal, wie schwierig die Gäste sind. Das gehört einfach dazu.“
„Aber, Winni, ich...“
„Nein, Mischa. Kein Aber. Jeder andere Chef hätte dich für so eine Aktion rausgeworfen. Ich aber gebe dir noch eine letzte Chance. Ich hoffe, du weißt das zu würdigen.“
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