1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 »Ach, ja... Pass gut auf deine Frrrau auf, Rrragnorrr!«, meinte sie noch.
Da ich mich schon im Gehen befand, drehte ich mich heftig um. »Was meinst du damit? Was siehst du?«, fragte ich gereizt.
»Ach nur so, ich sehe nichttts Konkrrretes, aberrr sollttten wirrr nicht alle gut auf die aufpassen, die uns am Herrrzen liegen, meinsttt du nicht auch?«, fragte sie weise.
Nickend schloss ich die Tür hinter mir, nicht mal sicher, ob sie mein Nicken durch den dichten Qualm überhaupt erkennen konnte.
*
Gerade als Ragnor die Seherin verließ, öffnete sich auf der anderen Seite, genauer gesagt, auf dem Nordamerikanischen Kontinent, eine kleine Erdspalte. Laut Ortszeit war es gerade kurz vor 9.00 Uhr. Natürlich nahm um diese Zeit niemand dieses außergewöhnliche Ereignis sonderlich zur Kenntnis. Erstens, weil alle damit beschäftigt waren, möglichst pünktlich auf der Arbeitsstelle zu erscheinen; der zweite Grund war der, dass dieser Vorgang in einer abgesperrten Baustellengrube vonstatten ging, die alle schleunigst und leicht verärgert umgingen. Nicht gerade ansehnlich, grub sich daraus ein Mann hervor, der nicht nur durch die New Yorker Erde, sondern auch mit dem Ruß der Hölle beschmutzt war. Und eins konnte man ihm ansehen: Er musste augenscheinlich eine Menge durchgemacht haben. Seine fast schon bläulich-weiße Haut verriet, dass er schon lange kein Sonnenlicht mehr gesehen hatte. Doch mit List und Tücke war er seinen Peinigern entkommen. An seiner statt, saß jetzt irgendein namenloser, armer Teufel im Gefängnis und beteuerte, nicht Loki zu sein. Selbstredend würde ihm sowieso niemand glauben. Da könnte jeder Inhaftierte mäkeln, er sei nicht derjenige, der diese harte Strafe verdient habe. Und Loki war nicht nur verschmutzt, obendrein auch noch tierisch angefressen. Er war verraten und verkauft worden. Und ausgerechnet von dem, der vorgab wie ein Bruder für ihn zu sein. Dabei konnte er ohnehin niemals glauben, der Allvater Odin würde ihn wie einen der Seinigen behandeln, wo er, Loki, doch ein Sohn Odins Feinde war. Trotz des Blutschwurs glaubte Loki dem Asen Odin immer nur bedingt. Dieser aufgeblasene Übergott drosch leere Phrase, tat sich wichtig und wusste selbstverständlich alles! Alles? Na, da hatte er sich wohl gründlich geirrt, wie die Sache mit dem Mistelzweig wohl nur zu fundamental bewies. Doch ihn für diesen kleinen Scherz dermaßen abzustrafen, das hatte er nicht verdient. Dies war selbstredend Lokis Meinung, nur um Missverständnisse auszuräumen. Doch nun war er frei wie ein Vogel und konnte seine eigenen Pläne verfolgen. Er würde nicht nur durch die Befreiung des Fenrirwolfs und der Midgardschlange seinem Gottvater das Jüngste Gericht bereiten, sondern auch denen, die ihn vergessen haben und damit seine Macht schwächten. Und Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird. - Ja, das gefiel im. Aber auch der schöne Spruch: Rache wird immer zur Hure. Ja, eine Hure würde er jetzt auch dringend vergenussferkeln wollen; wieder die warmen Schenkel einer Frau spüren. Das aber später. In erster Linie müsste er erst mal peilen, wo er sich hier überhaupt befand. Mit gesteigerter Vorsicht spähte er über die Abbruchkante.
»Na, scheiß einer die Wand an! Wo bin ich denn hier herausgekommen?«, fragte er mit leicht nordischem Akzent. Zuerst sah er nur Füße samt Beinen, die sich eilig von hier nach dort bewegten. Doch als er seinen Blick gen Himmel richtete, bemerkte er riesige Gebäude und nur bedingt ein kleines Stückchen Himmel. Schnell zog er wieder den Kopf ein und resümierte: »Na, so was! Ich bin in New York! Sieht mir verdammt nach Manhattan aus. Na, da bin ich ja genau richtig! Niemand sollte es versäumen, mal einen kleinen Einkaufsbummel in New York zu unternehmen. Hä hä, und da ich schon mal hier bin, werde ich auch um 15.30 Uhr, der Börse einen kleinen Besuch abstatten. Mir dünkt, es sieht nach einem formidablen Spaß aus!«
Zuerst musste er für ein unauffälliges Äußeres sorgen. Sofort müsste er Aufsehen erregen, wenn er wie ein Moddermonster daherkam. Mit der göttlichen Gabe eines Gestaltwandlers ausgerüstet, gab er sich das adrette Aussehen eines Geschäftsmannes. Ein dunkler Anzug, eine Aktentasche und glänzend polierte Lederschuhe. Der Teint seiner Haut wurde gesünder und sauber, gleich so, als wäre der Schmutz von ihm einfach nur herabgerieselt. Das fast silbrig weiße Haar wurde kürzer, dunkel und erhielt den Glanz von Pomade. Seine durchscheinend blauen Augen nahmen einen satten Braunton an. Schimpfend bewegte er sich aus der Baugrube, acht gebend, nicht wieder schmutzig zu werden.
»Verdammte Baustellen! Das hat uns hier gerade noch gefehlt! Der Verkehr bewegt sich ohnehin schon an seine Grenzen!«
Leute, die in New York vor sich hin schimpfen, wird in der Regel niemals Beachtung geschenkt. In New York schimpft jeder - und das ständig. Mal ist das Wetter zu kalt, dann ist die Hitze unerträglich. Man findet kein freies Taxi, oder der Hotdog ist mit zu viel Kraut belegt und enthält einfach nicht genug Würstchen. Und wenn er genug Wurstanteile hat, ist das Brötchen definitiv zu klein und es kleckert Ketschup auf die Kleidung. Und das sind nur ein paar Gründe, weshalb in New York stetig und mit wachsender Begeisterung gemeckert wird. Politik ist hier ausgeklammert, darüber können die Menschen einfach nie genug meckern.
Was selbstverständlich auch unabdingbar ist: Loki brauchte Geld und eine integere Identität. Als aufmerksamer Beobachter entging ihm der gut angezogene Herr nicht, der aufgeregt in sein Handy blökte. Sein Ringfinger war frei, also nicht verheiratet. Ein lediger Mann muss es sein. Eine Ehefrau macht nur Ärger, vor allem, wenn ihr eigener Ehemann sie nicht erkannte. Sofort heftete er sich an dessen Fersen und folgte ihm unauffällig. Und wer in seinem Leben so aufgeregt ist und dazu noch dem Kaffeegenuss frönt, der meistens in XXL-Bechern dargereicht wird, kann bestätigen, wie schnell sich in so einer Situation die Blase zu Wort meldet. Wenn der Anzugmann nicht bald eine Toilette erreicht, platzt er, oder bekommt gelbe Augen! , dachte Loki und konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. Wie heißt es immer so schön? Wasser hat so einen Kraft, selbst der stärkste Mann kann es auf Dauer nicht halten. Die Natur forderte immer ihren Tribut. Der Kerl mit dem Handy verschwand in eine öffentliche Bedürfnisanstalt. Loki witterte die Gunst der Stunde. Die Tür war noch nicht ins Schloss gefallen, da setzte er dem Mann schon nach, stieß die Tür auf, schlüpfte hinterher, checkte kurz die Begebenheiten. Die Luft war rein - im übertragenden Sinne gemeint -, woraufhin er den Nichtsahnenden von hinten überfiel und in die nächste Kabine zerrte. Der Fremde war nicht mal in der Lage einen Mucks von sich zu geben. Mit dem trainierten Geschick eines Kriegers brach Loki ihm lautlos das Genick. Sofort wurde der Anzugmann schlaff wie ein leerer Sack. Und da ein leerer Sack nicht stehen kann, setzte ihn der listige Gott auf der Toilettenbrille ab, wo er in aller Seelenruhe gefilzt wurde. Nachdem er die Brieftasche des Toten gefunden hatte, las er aufmerksam die Ausweispapiere.
»Aha, George Weston, Investmentbanker. Schade, George, dass du niemanden mehr erzählen kannst, wie mies dein Tag war«, kicherte der Listige. Danach nahm er das Handy und die Schlüssel an sich. Und die Krawatte entwendete er auch noch, weil sie ihm besonders gut gefiel. Er konzentrierte sich und nahm das lebendige Aussehen des Toten an, der ihn jetzt aus leblos-trüben Augen anstarrte. Dieser Blick beinhaltete einen gewissen Vorwurf, deshalb schloss Loki ihm die Augen. Nicht, weil es ein schlechtes Gewissen in ihm hervorrief; es war eher so, dass er einfach nicht von dem Deppen so unverschämt angeglotzt werden wollte. Nochmals warf er einen Blick auf die Papiere und wusste nun seinen Wohnort. Auch erfuhr er, wo er in Zukunft arbeiten würde. Und da war noch etwas. Er hatte Hunger. Einen animalischen und ungebändigten Hunger. Die Hölle ist eben nicht das Holiday Inn. Mit einer knappen Handbewegung machte er aus dem ehemaligen Investmentbanker ein undefinierbares Häufchen Asche, dem er eine Seebeerdigung angedeihen ließ. Als er den Spülknopf drückte, salutierte er zackig mit militärischem Gruß. George hat mir viel gegeben, einfach alles... Was für ein großzügiger Mensch! , dachte Loki. Er wusch sich die Hände in Unschuld und verließ die Räumlichkeiten.
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