Kurz darauf setzte er seinen Rundgang fort und kam in den Hof des Hauses. Dort blieb er erst einmal mit offenem Mund stehen. Der Hof war rechteckig und mit Steinplatten ausgelegt. In einer Ecke war ein Geräteschuppen und in der anderen Ecke ein kleines Kräuterbeet. In der Mitte befand sich ein Brunnen. Der Hof war von einer halbhohen Mauer umgeben, die Hanrek bis zur Brust ging.
Aber es war nichts im Hof gewesen, was Hanrek so überrascht hatte, sondern was dahinter lag. Direkt an den Hof des Steuereintreibers grenzte ein weiterer Hof oder besser gesagt ein Garten. Und in der Mitte des Gartens stand ein Heronussbaum. Das Besondere an diesem Baum war jedoch, und Hanrek prüfte das mit seiner Gabe , nachdem er einen schnellen Schritt ins Kräuterbeet getan hatte, dass er tot war. In dem gegenüberliegenden Garten stand ein riesiges fast weißes Gerippe von einem Heronussbaum.
Tiefe Trauer überkam Hanrek, als er den toten Baum sah. Wie alt musste dieser Baum gewesen sein, bevor er gestorben war? Wie lange stand dieses Gerippe schon so da, wie Hanrek es jetzt sah? Ein Denkmal eines großartigen und langen Baumlebens.
Noch etwas Besonderes gab es an diesem Baum zu sehen. Und das war etwas, was Hanrek nie erwartet hätte, jemals bei einem Heronussbaum zu sehen. Er war von oben bis unten gespalten. Ein Blitzschlag? Eine andere Erklärung bot sich Hanrek nicht. Er nahm sich vor, weitere Erkundigungen über diesen Baum und seine Geschichte einzuholen.
Als er mit der Erkundungstour im Haus fertig war, beschloss er den Kreis etwas zu erweitern und die Stadt zu erkunden. Dafür hatte er noch genügend Zeit bis zum Mittagessen.
Als Hanrek an der Küche vorbei kam, rief ihn Zollan hinein. Zollan hatte vermutet, dass Hanrek in die Stadt gehen wollte, und bat ihn, einige Besorgungen auf dem Markt für ihn zu machen. Da Hanrek einwilligte, gab er ihm eine kleine Geldbörse, die Hanrek sicher in seinen Kleidern verstaute, und erklärte ihm schließlich, an welchem Marktstand er welche Dinge erstehen sollte. Die Liste war nicht sonderlich lang und sie gab Hanrek ein Ziel, das er schon von früheren Besuchen in der Stadt kannte. Früher war er ein paar Mal mit seinem Vater nach Haffkef gefahren, um auf dem Markt verschiedene Lebensmittel zu verkaufen. Daher wusste er, wie die Geschäfte auf dem Markt liefen.
Wie jedes Mal, wenn er bisher in die Stadt Haffkef gekommen war, fand er die Stadt laut und voll, aber es gab auch jede Menge zu sehen. Auf dem Weg zum Markt kam er durch ein Viertel mit vielen Läden und Handwerkern. Er wusste nicht ob es so hieß aber er taufte es für sich das Händlerviertel. Von Uhrenmachern über Schmuckgeschäfte, Stoffmachern, Schneidereien, Waffenmachern, Steinmetzen, Hufschmieden, Bäckereien, Metzgereien, Schreinereien, Barbieren, Steingutbrennereien und vielen anderen Läden mehr, war alles zu finden.
An so mancher Auslage blieb Hanrek stehen und bestaunte Dinge, die er in seinem Heimatdorf selten oder nie zu sehen bekam.
Was er immer erschreckend und doch auch faszinierend fand, war, dass so viele Menschen unterwegs waren und er niemanden kannte. Hanrek kannte in Hallkel jeden. Auch im Nachbardorf Hannkel kannte er die meisten. Er hatte dort sogar einige Verwandte.
An dem Laden eines Instrumentenbauers blieb er lange stehen, schaute sich alle Instrumente an, ließ sich das eine oder andere Instrument erklären und entdeckte schließlich eine kleine Flöte aus ganz hellem Holz. Das Holz hatte fast die gleiche Farbe wie sein Stab, als dieser noch ungefärbt war. Auch diese Flöte ließ er sich vorspielen und der Klang faszinierte ihn.
Er fragte den Verkäufer.
„Ist diese Flöte aus Heronussbaum, weil sie so hell ist?“
Der Verkäufer brach in schallendes Gelächter aus.
„Nein. Wenn ich hier eine Flöte aus Heronussbaum hätte, würde ich sie verkaufen und mir dann ein Haus in Ventef kaufen. Nichts für ungut, mein Junge. Ist nicht böse gemeint, wenn ich lache. Eine Flöte aus Heronuss. Das wäre was. Man sagt einer Flöte aus Heronuss nach, dass sie magische Kräfte hat. Ich selbst habe aber weder eine gehört noch gesehen. Wenn du mal eine hörst, kannst du mir ja dann Bescheid geben.“, und dabei lachte er noch mal ausgiebig.
Das vertrieb Hanrek aus seinem Laden.
Als er an einem Laden mit exotischen Tieren vorbei kam, sprach ihn der Ladenbesitzer an.
„He Junge. Willst du einen Affen kaufen? Er kostet nicht viel.“
Hanrek blieb stehen. In dem Laden gab es mehrere kleine Äffchen, außerdem Vögel und einige Tiere, die Hanrek noch nie gesehen hatte. Es war ein ziemlicher Lärm in dem Laden.
„Was würde denn einer kosten?“, fragte Hanrek.
„5 Kronen.“
Das war eine Menge Geld.
Wenn jemand im Königreich Kronen sagte, meinte er Silberkronen. Eine Silberkrone war so viel wert wie Hundert Kupferlinge und Hundert Silberkronen gaben eine Goldkrone. Aber eine Goldkrone hatte Hanrek noch nie gesehen. In Hallkel war keiner reich, und wenn einer eine Goldkrone besaß, dann zeigt er sie sicher nicht herum.
Zollan hatte Hanrek einen Geldbeutel mit zwanzig Kupferlingen mitgegeben. Damit würde er alle Einkäufe erledigen können und würde noch Geld übrig behalten. Als Hanrek an das Geld und die Einkäufe dachte, die er noch zu erledigen hatte, hatte er es auf einmal eilig. Er hatte zu lange herum getrödelt und jetzt würde er es wahrscheinlich gerade noch so bis zum Mittagessen schaffen, aber nur wenn er sich sehr beeilte. Er ließ ohne ein Wort den Ladenbesitzer stehen und ging schnell in Richtung Markt.
Verärgert rief ihm der Ladenbesitzer nach.
„Du hättest ja wenigstens versuchen können zu handeln, du Bastard.“
Hanrek beachtete sein Rufen nicht und eilte weiter. Er wollte nicht schon beim ersten Mal zu spät sein oder Zollan die versprochenen Dinge nicht mitbringen. Schnell kaufte er die Sachen ein und schaffte es dann gerade noch rechtzeitig, bis zum Mittagessen zurück zu sein.
Nach dem Mittagessen, das aus einem würzigen wohlschmeckenden Eintopf bestand, fand sich Hanrek wie gewünscht im Arbeitszimmer von Lucek ein. Der Raum war funktionell und weitgehend schmucklos eingerichtet. Die Ausstattung bestand aus einem Schreibtisch in der einen Ecke, einigen Stühlen in der anderen Ecke und Büchern und gestapelten Akten in Regalen an den Wänden.
Lucek kam gleich zur Sache, und erläuterte Hanrek, wie sein Tagesablauf in der nächsten Zeit aussehen würde.
„Sobald der andere Lehrling aus Hattkel eingetroffen ist, bekommt ihr morgens zusammen Unterricht bei einem Lehrer, den ich ins Haus bestellt habe. Den genauen Lehr- und Zeitplan bekommt ihr dann vom Lehrer. Bis aber der Lehrling da ist, hilfst du mir morgens im Arbeitszimmer beim Akten Aufräumen und Sortieren. Durch das Erdbeben sind viele Akten komplett verloren gegangen, einige konnten aus den Trümmern gerettet werden. Sauber gemacht haben wir sie schon aber sie müssen neu sortiert werden. Viele Akten sind miteinander vermischt worden. Vielleicht können wir aus den vorhandenen Akten auch Teile der verloren gegangenen Akten rekonstruieren. Wenn nicht, müssen diese neu angelegt werden. Es gibt jede Menge zu tun und jedes Mal, wenn ich mich damit beschäftige, wird der Berg Arbeit größer anstatt kleiner.“
„Nachmittags bekommt ihr dann zweimal in der Woche Kampfunterricht. Für zwei Lehrlinge wollte ich keinen eigenen Ausbilder einstellen. Deshalb habe ich mich mit der Bruderschaft des Baums geeinigt, dass ihr dort mit trainieren dürft.“, fuhr Lucek fort.
„Bruderschaft des Baums. Was ist das?“, fragte Hanrek.
„Wenn du in unseren Hof gehst, siehst du das Gebäude gegenüber. Vielleicht hast du es ja schon gesehen. Dort hat die Bruderschaft des Baums ihren Sitz. Sie verehren den toten Heronussbaum in ihrem Garten oder so etwas Ähnliches. Die Bruderschaft geht auf irgendein altes Gesetz eines lange verstorbenen Königs zurück. Die Bruderschaft bekommt sogar von den Steuergeldern, die wir eintreiben einen gehörigen Batzen ab. Wenn du mich fragst, gehört das Gesetz abgeschafft. Aber wenigstens muss ich für eure Teilnahme an der Kampfausbildung nichts extra bezahlen, da wir die Kerle ja sowieso durchfüttern.“, erklärte Lucek.
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