Versunken in ihre Gedanken ließ das junge Mädchen den Blick über den vernebelten Garten schweifen, als sich hinter dem Zaun etwas zu bewegen schien. Nicht nur ein Blatt im Wind, sondern ein Schatten. Ein großer Schatten. Was ist das schon wieder. Sag mir nicht, dass es hier Wölfe gibt.
Mara kniff die Augen zusammen und fokussierte die Stelle zwischen dem großen Strauch und der Wäscheleine, an der sie etwas gesehen hatte. Nichts rührte sich. Schon glaubte sie, es sich wieder wie die Erscheinung auf der Brücke eingebildet zu haben, doch dann trat eine Gestalt aus dem Nebel.
Es war ein übergroßer Mann in einen langem Regenmantel und hohe Stiefeln gekleidet, mit flatterndem Schal und Zylinder. Die Schultern waren seltsam breiter als der Rest des Körpers, so als wäre er besonders muskulös. Und unter der breiten Krempe des Hutes war das Gesicht nicht zu erkennen. Was macht so ein Kerl bei uns auf dem Grundstück?
Dann hob der Mann den Kopf und starrte sie direkt an. Sie konnte sein Gesicht unter dem hochgezogenen Schal und der großen Sonnenbrille zwar nicht erkennen, doch es war, als würde er ihr direkt in die Augen sehen. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Plötzlich hob er die Hand und schien ihr zu winken. Erschrocken ließ sie sich fallen und kauerte sich auf ihrer Matratze zusammen. Was ist das für ein Kerl? Hat er mich gesehen? Wer trägt nachts eine Sonnenbrille?
Nervös versuchte sie sich wieder aufzurichten und über den Fensterrahmen hinaus zuschauen. Doch zu ihrem Glück war von der unheimlichen Gestalt in ihrem Garten nichts mehr zu sehen.
Der Mann mit dem Zylinder
Am nächsten Morgen war Mara unglaublich froh, dass sie Sommerferien hatte und keine Schule besuchen musste, denn Dank dem unheimlichen Mann hatte sie noch lange wach gelegen und an die Blümchendecke gestarrt. Immer wieder war sie aufgestanden und hatte aus dem Fenster geblickt, um sich zu versichern, dass er nicht mehr da war. Der Garten lag still und einsam gehüllt im Nebel dar, als hätte der unheimliche Besucher niemals existiert. Als sie verschlafen gegen zehn Uhr die Treppe herunter kam begrüßte ihre Mutter sie fröhlich.
»Guten Morgen, Prinzessin. Hatten wir einen erholsamen Schlaf?«
Mara fuhr sich durch ihre ungewaschenen, strubbligen Haare, um eine Strähne von ihrem Gesicht zu verbannen und setzte sich dann gähnend neben ihre Mutter.
»Ich brauche Kaffee«, konstatierte die Tochter.
»Hast du ein Glück, dass ich gerade zufällig welchen zum Frühstück gekocht habe. Möchtest du noch etwas anderes, wie Brot, Marmelade und Saft vielleicht?«
»Das klingt gut.«
»Dann bediene dich in der Küche. Du siehst ja, dass ich gerade beschäftigt bin.«
Tatsächlich bemerkte Mara erst in diesem Augenblick, dass der Tisch nicht mit einer Decke, sondern mit Zeitungen ausgelegt war, welche ihre Mutter an mehreren Stellen mit Kugelschreiber eingekreist hatte. Der Text war natürlich auf Schwedisch, sodass sie sich keinen Reim darauf machen konnte. Denn obwohl sie wusste, dass ihre Mutter in Schweden geboren war, hatte sie sich nie bemüht die Sprache zu lernen. Genau genommen war Mara im Grunde froh, dass sie inzwischen ganz gut Englisch verstand.
Also erhob sie sich wieder und taumelte in die Küche. Wie es sich gehörte hatte ihre Mutter bereits alles vorbereitet. Der Kaffee war noch heiß, warme Brötchen lagen bereit und die Marmeladengläser standen geöffnet, mit je einem Löffel versehen, daneben. Mara ignorierte die Karaffe mit frisch gepresstem Orangensaft und schenkte sich ihre große Ohne dich ist alles doof -Tasse ein, die ihre Mutter ihr vor einem Jahr geschenkt hatte. Nachdem sie sich ihre Brötchen geschmiert hatte kehrte sie zum Frühstückstisch zurück.
»Was machen wir heute?«, fragte sie unverblümt.
»Du hast den Nachmittag heute erst mal frei. Ich muss zu zwei Vorstellungsgesprächen in der nächsten Ortschaft. Also vielleicht gehst du ein wenig spazieren und machst dich mit unseren Nachbarn bekannt. Svanesund ist größer, als du denkst.«
»Mmmh«, überlegte Mara.
Wenn sie einen schlechten Eindruck bei den Nachbarn hinterließ, dann würde ihre Mutter vielleicht schneller wieder zurück wollen. Während sie sich das erste Marmeladenbrot zwischen die Backenzähne schob, überlegte sie fieberhaft, wie sie sich möglichst schlecht in Szene setzen konnte. Die ungewaschenen Haare sind schon einmal ein Anfang.
»Mit ein wenig Glück habe ich heute Abend schon einen Job«, meinte Viola zuversichtlich.
»Dann muss ich hier zur Schule?«, fragte Mara nach der Konsequenz des Erfolges ihrer Mutter.
»Natürlich. Die Schule hier wird dir gefallen.«
»Schule ist dämlich. Egal ob hier oder zu Hause«, damit schob sich Mara das zweite Brötchen zwischen die Zähne und nahm einen Schluck Kaffee hinterher.
»Du weißt, dass ich es nicht gut finde, wenn du so viel Kaffee trinkst.«
»Papa hat dazu nie was gesagt.«
»Ich bin aber nicht Papa und ich sage etwas dazu.«
»Aha«, machte Mara und leerte die Tasse.
Ihre Mutter verdrehte die Augen und stand auf. Sie warf demonstrativ einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Du pass auf. Ich muss jetzt los. Mach dir einen schönen Tag. Ich bin gegen fünf oder sechs wieder hier.«
Damit gab sie ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange, bevor diese ausweichen konnte und verschwand zur Tür hinaus. Mara stand auf und brachte das Geschirr in die Küche, um es in den Geschirrspüler einzuräumen. Leider musste sie feststellen, dass es so etwas nicht gab. Also stellte sie Teller und Tasse einfach in die Spüle und ging in ihr Zimmer.
Oben angekommen holte sie ihr Handtuch und Duschsachen hervor. Im Gegensatz zum Hochglanzbad ihres Vaters konnte sie sich in diesem hier kaum auf einer Stelle drehen. Sie spielte eine Weile vor dem Spiegel mit ihren Haaren und probierte gruselige Frisuren aus.
Dann entschied sie schließlich ihre Haare doch zu waschen. Dabei setzte sie das halbe Bad unter Wasser. Da brauch ich wohl etwas Training. Sie rubbelte sie so gut es ging trocken und band ihre Mähne dann zu einem Zopf zusammen. Richtig trocknen konnten sie ja auch an der Luft. Danach packte sie ihre Sachen in den Rucksack, Stifte, Papier und ihr Handy. Essen und Trinken klaubte sie sich aus der Küche zusammen. Sie schmierte sich zwei Brötchen und packte einen Apfel dazu. Bevor das junge Mädchen aus der Tür trat, machte sie nochmal auf dem Absatz kehrt und ging hoch ins Schlafzimmer ihrer Mutter.
Es war immer wichtig zu wissen, wo die Eltern ihre Geheimverstecke hatten, das hatte sie schon früh gelernt. Das Schlafzimmer ihrer Mutter war bereits in Limonengrün, der momentanen Lieblingsfarbe, gestrichen und mit weißen Möbeln eingerichtet. Von links fiel das Sonnenlicht durch einen feinen, bestickten Vorhang auf das ordentlich gemachte Bett. Über die grüne Decke schaute sie Emma, die Plüscheule, mit vorwurfsvollen Blicken an.
Neben dem Bett stand eine aus schwungvollem, weiß gestrichenem Holz gefertigte Kommode, auf der der alte Laptop schlummerte. Viel war in dem noch provisorisch eingeräumten Zimmer nicht zu finden. Das meiste befand sich noch in den beiden Koffern neben dem Bett.
Allerdings fand Mara im großen Kleiderschrank eine kleine Klappe, hinter der man mit Leichtigkeit etwas verstecken konnte. Es würde sich also lohnen sich in ein paar Tagen noch einmal ins Schlafzimmer zu schmuggeln. Mit einem kleinen Siegeslächeln machte sich Mara nun auf den Weg nach draußen.
Ein kühler, salziger Hauch schlug ihr entgegen und sie zog sich die Kapuze ihres lila Pullovers über. Wohin jetzt?
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