»Du… Mutter.«
»Nein. Ich antworte dir erst, wenn du mich Mama nennst.«
»Ach komm. Das ist doch albern.«
Ihre Mutter hob den rechten Zeigefinger theatralisch mahnend in die Luft. Mara murrte kurz.
»Du… Mama.«
»Ja.«
»Wo wohnen wir eigentlich?«
»Ich habe schon darauf gewartet, dass du endlich mal fragst. Das wird eine große Überraschung.«
»Soll heißen, du sagst mir jetzt gar nichts.«
»Das soll es heißen. Aber ich bin froh, dass du Interesse zeigst.«
»Schön, dass du froh bist«, knurrte Mara, verschränkte die Arme und starrte mit bösem Blick auf die Kopfstütze ihrer Mutter. Dabei stellte sie sich vor, wie sie in ihren Kopf kriechen könnte, um alle Geheimnisse und Ängste ihrer Mutter herauszufinden und gegen sie einzusetzen. Ihr Unterfangen blieb vergeblich und so zog sie die Kapuze ihres lila Pullovers über den Kopf und versuchte wieder zu schlafen. Nach gefühlten zwei Sekunden erwachte sie mit einem grunzenden Laut.
»Ah. Ist die Prinzessin wieder erwacht. Gerade im richtigen Augenblick.«
»Ich hab dir doch schon tausendmal gesagt, ich bin keine Prinzessin. Prinzessinnen sind dumme Kinder in rosa Kleidchen.«
»Ach so. Das muss ich wohl verdrängt haben. Entschuldigt Hoheit.«
»Hör auf damit.«
»Schau doch mal raus. So etwas bekommt man nicht alle Tage zu sehen.«
Widerstrebend folgte Mara, blickte aus dem Fenster und traute ihren Augen kaum.
»Woah«, war ihre tiefschürfende Reaktion.
Im Licht des späten Nachmittags hob sich die asphaltierte Straße in die Luft und wurde zu einer gigantischen Brücke, die über das glitzernde Wasser führte.
»Was ist das? Ich kann gar nicht das Ende sehen.«
Die Brücke wand sich durch den aufkommenden Nebel und verschwand in einer Wand aus grau. Es wirkte regelrecht, als wäre die Welt an dieser Stelle zu Ende. Die Wagen vor ihnen wurden von der schleierähnlichen Masse verschluckt und waren nie mehr gesehen.
»Wahnsinn. Das sieht ziemlich gruselig aus. Und da wollen wir durch?«
»Keine Sorge, Prinzessin. Das ist nur Nebel.«
»Das weiß ich auch. Ich bin doch nicht blöd.«
»Ich bin doch nicht blöd«, äffte ihre Mutter Mara leise nach.
Nicht, dass das Mädchen diese Gehässigkeit nicht mit bekommen hätte, doch im selben Moment zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich. In der Nebelbank bewegte sich etwas. Nicht die Schatten der Autos und Laster, die darin verschwanden oder daraus hervorkamen, sondern etwas viel… Größeres. Hinter der Wand aus Wasserdampf erhob sich ein riesiger Schatten. Größer als die Brücke selbst, über die sie fuhren. Dann brach ein Teil des Schattens durch den Nebel und enthüllte einen gewaltigen, schwarzen, schuppigen Schwanz, der sich um die Brücke zu winden begann. Riesige, geschlitzte Augen starrten das junge Mädchen an.
Mara konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken und stieß ihre Mutter von hinten an, »Siehst du das?«, fragte sie aufgeregt.
»Was soll das? Schrei nicht so.«
Genervt hielt sich ihre Mutter das rechte Ohr, »Was ist denn plötzlich los?«
Als Maras Blick wieder zurück zum Nebel wanderte war der Schatten verschwunden. Alles wirkte so, als wäre nichts geschehen. Sie rieb sich die Augen, doch diese hilflose Geste brachte keine Veränderung.
»Was ist denn?«, wiederholte Viola.
»Ähm… nichts. Der LKW da drüben hat eine komische Farbe.«
»Aha. Das ist ja aufregend.«
Ihr Auto versank in der Nebelbank und sie konnten nicht weiter als fünfzig Meter sehen. Verzweifelt versuchte Mara eine Spur des riesigen Schattens auszumachen, doch es war, als wäre nie etwas gewesen. Vielleicht hab ich mir das ja nur eingebildet.
Auf der anderen Seite angekommen nahmen sie sich ein Hotelzimmer. Viola versuchte ihrer Tochter einen Gutenachtkuss zu geben, doch diese wehrte sich erfolgreich. Mit einem »Gute Nacht, Prinzessin« kuschelte sie sich ein und war schnell und fest eingeschlafen. Mara sah aus dem Fenster hinaus auf das Meer. Sie konnte einen Streifen der unheimlichen Brücke noch im Nebel sehen und fröstelte. Schnell wickelte sie sich ebenfalls in ihre Decke, umschlang ihren Kuschelhasen und versuchte das gruselige Bild zu vergessen.
Am nächsten Tag fuhren sie noch etliche Stunden ohne besondere Ereignisse. Langsam wurde es kühler und die Landschaft änderte sich von grünen Wiesen und Nadelwäldern zu felsigen Landschaften, durchzogen von Flüssen und Seen. Mara konnte sich vorerst nicht allzu viel aus dem Fels, Gräsern und Wasser machen. Es sah hübsch aus, aber gleichzeitig auch sterbend langweilig. Eine ganze Zeit fuhren sie am Wasser entlang. Auf der anderen Seite konnte Mara weitere Felsen und Wälder erkennen.
»Das ist Orust«, sagte Viola begeistert.
»Aha.«
Nach jeder Menge Schlangenlinien erreichten sie einen breiten Fluss. Die Straße schien direkt im Wasser zu enden.
»Und jetzt? Wohnen wir am Grund des Meeres?«
»Nur Geduld, Prinzessin. Unsere Fähre kommt ja schon.«
Mara streckte den Hals, um besser sehen zu können. Von der anderen Seite her näherte sich ein Schiff mit einer platt gedrückten Ladefläche. Darauf standen Autos und ein Transporter, die ungeduldig darauf warteten die andere Seite zu erreichen. Das Vehikel schwankte erheblich als die Fahrzeuge es verließen und Maras Mutter hinauf fuhr. Sie warteten eine ganze Weile, bis weitere Wagen sich hinter ihnen einreihten, dann legte die Fähre ab. Zum Glück dauerte die Fahrt nicht lange, denn Mara hatte das Gefühl, sie würden jeden Augenblick untergehen.
Am anderen Ufer empfing sie eine Ortschaft mit dem Namen Svanesund. Mara drückte ihre Nase gegen die Scheibe und betrachtete die kleinen, zumeist rot oder weißen Holzhäuser, die sich direkt an der Uferstraße aneinander reihten. Davor gab es ab und zu kleine von weißen Holzzäunen eingerahmte Grasflächen mit teils lustigen Briefkästen, die ihrem großen Pendant dahinter glichen.
Auf der Straße kamen ihnen drei Kinder mit einem Fußball entgegen, die Mara als Jungs in ungefähr ihrem Alter identifizierte. Die Jungs warteten wie aufgereiht am Straßenrand als sie vorbeifuhren und grüßten freundlich. Irritiert sah ihnen Mara hinterher. Auf der rechten Seite tauchten mehrere Bootsanleger und eine Art kleiner Hafen für Privatboote auf. Mara beobachtete die schwankenden Gefährte im glitzernden Wasser. Kurz darauf bogen sie auf etwas ein, dass mehr einem Bergpfad als einer Straße glich. Skogslykevägen verkündete das Straßenschild.
»Endlich«, schnaufte Viola. »Fast geschafft.«
»Und du weißt auch genau, wo du hin willst, ja?«
»Es ist nicht mehr weit. Nur noch da vorne rechts und bis zum Ende der Straße.«
Und tatsächlich. Fünf Häuser weiter stellte ihre Mutter den roten Golf vor einem kleinen, untersetzten Haus in nahezu ebenso dreckigem Rot ab und gab bekannt: »Sie haben ihr Ziel erreicht.«
Mara konnte nicht genau sagen, was sie erwartet hatte, aber nicht das, was sie hier vorfand. Das kleine, zweistöckige Haus war geradezu aus einem Schwedenreiseführer ausgeschnitten. Es fehlte nur etwas neue Farbe. Es gab einen kleinen, verwilderten Vorgarten mit einem blechernen Briefkasten, auf dem eine hässliche Trollfigur thronte. In seinen Wurstfingern hielt er ein Schild mit der Aufschrift, »Sundqvist«.
»Keine Angst. Deinen Namen Pinseln wir auch noch drauf«, lachte Viola.
»Jetzt komm erst mal mit rein. Du wirst es toll finden.«
Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die in diesem Ort aufgewachsen war, hatte Mara das Haus noch nie zuvor gesehen. Allzu neugierig war sie nicht, ließ sich aber dennoch mitziehen. Als sie durch die kleine Tür mit dem geriffelten Sichtfenster trat konnte sie durch einen winzigen Flur direkt in das zweigeteilte Wohnzimmer blicken, das wirkte als wäre es von ihrer Großmutter eingerichtet worden.
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