1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 War Christoph wieder einmal den Reizen einer Tübinger Schönen erlegen, spürte er Reue, wenn er an Klara dachte, fühlte sich schuldig, weil er ihr untreu geworden war. Auch sein Studienfreund Heinrich, während des Feldzugs gegen Preußen wie er Unterarzt im selben Bataillon und in kriegsfreien Zeiten ebenfalls fürs Studium beurlaubt, hatte bei dem Versuch, ihm die Selbstvorwürfe auszureden, nur mäßigen Erfolg.
„Christoph, mach dir doch keine unnötigen Gedanken! Ist ja schön, dass du in Klara verliebt bist, sie sogar liebst, wie du sagst. Ich beneide dich darum, um ehrlich zu sein. Mir ist bisher noch keine begegnet, die ich heiraten wollte. Ich könnte auch sagen: Mir ist die Liebe noch nicht begegnet. Genieß doch einfach die Zeit hier in Tübingen! Weißt du, ob du aus dem nächsten Krieg heil zurückkommst? Ich wäre froh, ich würde so gut aussehen wie du und hätte so leichtes Spiel bei den Mädchen hier.“
„Das solltest du dir lieber nicht wünschen. Du siehst ja, wohin das führt.“
Die Worte des Freundes schmeichelten ihm, konnten aber seine Schuldgefühle gegenüber Klara nicht beseitigen. Er nahm sich fest vor, in Zukunft jeder auch noch so großen Versuchung zu widerstehen und Klara treu zu sein. Erleichtert würde sein Vorsatz durch den in Kürze beginnenden Krieg gegen Österreich, der seine ganze Kraft forderte und wenig Zeit für Vergnügungen ließ.
Während eines kurzen Aufenthalts in Thamm erfasste ihn eine so starke Sehnsucht nach Klara, dass er beschloss, in den verbleibenden Tagen bis zum erneuten Einrücken zu ihr zu reiten.
Wie hatte er nur so lange damit warten können? Gewiss, entweder hatten ihn Feldzüge oder das Studium daran gehindert und in den wenigen freien Tagen dazwischen war die Zeit für die Wegstrecke sehr knapp. Dennoch, so warf er sich jetzt vor, hätte es trotz aller Schwierigkeiten sicher irgendwann eine Möglichkeit gegeben, Klara zu besuchen. Hatte er befürchtet, von ihr, die sich inzwischen vielleicht verändert hatte, enttäuscht zu sein? Würde sie ihm noch gefallen? Würde er ihr noch gefallen? Was würden sie füreinander empfinden, wenn sie sich plötzlich gegenüberstanden? War es überhaupt richtig, Klara unangemeldet mit seinem Erscheinen zu überraschen?
Solche und ähnliche Gedanken bedrängten ihn auf seinem Ritt durch die hügelige Kraichgaulandschaft, wo sich, es war Anfang April, Frühlingsboten wie Schlüsselblumen, Adonisröschen, Anemonen und entlang der Bäche Sumpfdotterblumen zeigten und am Wegrand der Weißdorn blühte. Es dunkelte bereits, als er in Neckarbischofsheim, wie es inzwischen hieß, einritt. Die Hauptstraße, in der Klaras Elternhaus stand, war menschenleer. Christoph hielt vor dem Gasthof gleich am Ortseingang. Er mochte nicht durch den Ort reiten, wo er hätte Klara begegnen können, die er erst am nächsten Tag aufsuchen wollte. Ihre gastfreundlichen Eltern hätten sich vielleicht verpflichtet gefühlt, ihn bei sich übernachten zu lassen. Zwar hatten sie ihn vor vier Jahren, als er todkrank mit Typhus daniederlag, gepflegt und behandelt wie einen Sohn, aber jetzt kam er als Besucher, der nicht wie damals bei ihnen zwangseinquartiert war.
Am nächsten Morgen erwachte er schon früh und konnte es kaum erwarten, Klara wiederzusehen. Aufgeregt wusch und rasierte er sich, zog seine Uniform an, wobei er mehr noch als sonst auf ihren korrekten Sitz achtete. Vom Frühstück nahm er nur wenig zu sich. Zu sehr waren seine Gedanken schon bei Klara.
Das Warten wurde ihm unerträglich. Endlich schlug die Kirchturmuhr neun und Christoph verließ den Gasthof. Nach einigen hundert Schritten stand er vor dem Laden von Klaras Eltern. Er zögerte kurz, drückte dann entschlossen die Türklinke nach unten und trat ein.
Eine verwirrende Mischung aus bekannten und fremdartigen Gerüchen umfing ihn. Niemand war im Laden. Er räusperte sich. Aus dem Nebenraum näherten sich Schritte. Klaras Vater erschien in der Tür.
„Guten Morgen, Herr Weber.“, begrüßte ihn Christoph freundlich.
Verwundert, aber ebenfalls freundlich erwiderte der etwas rundlich gewordene Mann den Gruß und fragte Christoph, den er offensichtlich nicht erkannte, nach seinen Wünschen.
„Herr Weber, ich bin's, Christoph Groß. Ich habe vor drei Jahren mit Typhus bei Ihnen gelegen und Ihre Frau und Klara haben mich gepflegt, bis ich wieder gesund war.“
„Ach, Sie sind das, Herr Groß. Jetzt erkenne ich Sie. Schön, Sie wiederzusehen.“ Seine Freude war echt. „Was führt Sie denn hierher?“
„Um ehrlich zu sein, Herr Weber, komme ich, um Ihre Tochter wiederzusehen.“, erwiderte Christoph etwas verlegen.
„Na, da wird sie sich aber freuen.“, meinte der Kaufmann, der über Klaras Gefühle für den jungen Württemberger und beider Heiratswünsche Bescheid wusste. Obwohl er Christophs Ungeduld wahrnahm, rief er nicht sofort nach seiner Tochter, sondern fragte nach dessen Befinden und Erlebnissen in den vergangenen Jahren, nach Studium und Familie.
Höflich beantwortete Christoph alle Fragen, bis der Kaufmann seinem Warten ein Ende bereitete und nach oben rief:
„Klara, komm mal runter! Wir haben Besuch.“
Nur wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür zur Treppe und Klara trat heraus. Als sie Christoph erblickte, blieb sie stehen und stieß hervor:
„Christoph! Das ist aber eine Überraschung!“
Sie eilte die Treppe hinab, wollte Christoph umarmen, hielt aber, sich der Gegenwart des Vaters bewusst werdend, inne und reichte ihm nur die Hand.
Lächelnd blickten sie einander an und fühlten beide, dass die lange Zeit der Trennung ihrer Liebe, derer sie sich nur in Briefen versichert hatten, nichts hatte anhaben können.
Klaras Liebreiz verzauberte Christoph sofort aufs Neue. Statt der beiden mädchenhaft wirkenden Blondzöpfe hatte sie ihr Haar jetzt zu einem einzigen langen Zopf geflochten, was sie zusammen mit ihrem schmaler gewordenen Gesicht erwachsener aussehen ließ, wie sie auch insgesamt zu einer jungen Frau herangereift war.
„Ja, das ist aber eine Überraschung!“, waren plötzlich die gleichen Worte wie zuvor von Klara von ihrer Mutter zu vernehmen, die oben am Treppenabsatz stand. Sie kam herab und gab Christoph die Hand.
„Das freut uns aber, Herr Groß, dass Sie uns besuchen. Und Klara freut sich sicher besonders. Nicht wahr, Klara?“
„Ja, Mutter.“, antwortete diese ein wenig verlegen.
„Wie lange bleiben Sie denn, Herr Groß?“, fragte geradeheraus die Mutter, eine selbstbewusste, wie Klara hochgewachsene, blonde Frau.
„Ich muss morgen schon wieder weiter nach Heidenheim, wo ich mich bei meinem Regiment melden muss.“
Das Lächeln verschwand aus Klaras Gesicht.
„Das ist aber schade.“, meinte ihre Mutter. „Jetzt haben wir Sie so lange nicht gesehen und Sie müssen uns schon morgen wieder verlassen.“
„Ich bedauere das auch sehr.“, erwiderte Christoph.
„Freuen wir uns doch, dass Herr Groß uns überhaupt besucht.“, warf Klaras Vater ein und wandte sich einer alten Frau zu, die gerade in den Laden getreten war.
„Komm, Christoph, lass uns nach oben gehen! Dort können wir uns in Ruhe unterhalten.“, sagte Klara, jetzt wieder lächelnd.
„Mutter, möchtest du mitkommen?“, fragte sie höflich, wünschte sich aber, dass diese nein sagen würde.
„Nein, nein. Geht nur ohne mich! Herr Groß hat dir sicher viel zu erzählen.“
Kaum hatten sie das Wohnzimmer betreten und die Tür hinter sich geschlossen, umarmten sie einander. Klara schlang ihre Arme um Christophs Nacken und sah in glückseliger Erwartung zu ihm hinauf. Sekundenlang blickten sie einander in die Augen, dann fanden sich ihre Lippen zu einem langen Kuss, in dem sich die ungestillte Sehnsucht dreier Jahre des Wartens Bahn brach.
Christoph fühlte ein starkes Verlangen nach Klaras schlankem, sich an ihn schmiegenden Körper, aber er zwang sich, seine Erregung zu unterdrücken. Zum einen wollte er Klara in ihrer Jungfräulichkeit nicht bedrängen, zum anderen musste er jederzeit damit rechnen, dass Klaras Mutter oder Vater hereinkäme.
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