Je mehr Zeit verging, je mehr Wochen und Monate sich zwischen ihn und Luise schoben, desto seltener dachte er an sie. Die Tage waren ausgefüllt mit der Versorgung der Verwundeten, deren Zahl während der Kämpfe mit den Preußen ständig stieg, besonders für Christoph auch mit der Behandlung von Erkrankungen allgemeiner, nicht ausschließlich kriegsbedingter Art.
Anfang Mai, sechs Monate nach seinem Abschied von Luise, geriet Christoph im schlesischen Striegau in Gefangenschaft. Ein preußisches Streifkorps überfiel das nur von wenigen Württembergern und Franzosen besetzte Städtchen und zog weiter zum außerhalb gelegenen Klosterspital, um alle dort befindlichen, zum Transport fähigen gegnerischen Verwundeten wie auch deren Ärzte gefangen zu nehmen. Christoph versuchte noch, sich mit einigen Ärzten und Offizieren im Gartenhaus des Klosters zu verstecken, sie wurden aber entdeckt und vor dem Abtransport ihrer Habe beraubt.
Christoph hatte dabei anfangs noch Glück. Er musste sich „nur“ von seiner silbernen Uhr, einem Geschenk seines Vaters, trennen. Den seidenen Geldbeutel mit einigen Talern darin ließ der preußische Ulan vor ihm zu Boden fallen.
„Nimm's man nur hin, Brüderchen! Wirst's man wohl brauchen.“, lachte er.
Nur kurz danach, als sich alle Gefangenen auf dem Marktplatz versammelten, nahm ihm ein anderer auch noch den Geldbeutel weg. Vom Inhalt überließ er, wohl aus Mitleid, Christoph ein paar Groschen, die wieder ein anderer ihm zwei Tage später in Waldenburg abnahm.
Für Christoph blieb die Gefangennahme durch die Preußen die einzige. Nach sechs Tagen wurden er und weitere Ärzte, da sie nicht unmittelbar zur kämpfenden Truppe gehörten, freigelassen. Von der anfänglichen Beraubung seitens preußischer Soldaten abgesehen, hatte man den jungen Unterarzt wie auch seine Kameraden gut behandelt, so dass Christoph später immer ohne Hass oder ähnliche Empfindungen an die Tage in preußischer Gefangenschaft zurückdachte.
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Nach der Niederlage Preußens und dem Tilsiter Friedensschluss Napoleons mit Russland und Preußen im Juli 1807 tat Christoph Dienst in einem der Spitäler Breslaus, wo es viele Verwundete aus dem gerade zu Ende gegangenen Krieg zu versorgen gab.
Wenn es sein Dienst zuließ, sah sich Christoph in Breslau um, besuchte, obwohl nur in Ansätzen gläubig, den Dom und einige der zahlreichen anderen Kirchen, bewunderte die astronomische Uhr an der Ostfassade und die Skulpturen an der Südfassade des gotischen Rathauses am Großen Ring, dem mittelalterlichen Marktplatz der Stadt.
Bei einem seiner Stadtbummel erlebte er ein ganz besonderes Schauspiel, das sich täglich gegen vier Uhr nachmittags wiederholte. Napoleons jüngster Bruder Jérome, erst vor kurzem zum Divisionsgeneral befördert, der noch im selben Jahr zum König von Westfalen aufsteigen durfte, ritt unter aufwändigem militärischem Schutz durch das besetzte Breslau. Die Spitze des Zuges bildeten zwei bayerische Chevauxlegers, jeder eine Pistole mit gespanntem Hahn vor sich auf dem Sattel haltend, dann ein Offizier mit gezogenem Säbel. Ihm folgte in prächtiger Uniform Jérome Bonaparte, an seiner linken Seite ein französischer General, hinter ihnen Ordonanzoffiziere und zum Schluss des Umzugs noch einmal Chevauxlegers, etwa sechzig an der Zahl, mit blanken, in der Nachmittagssonne blitzenden Säbeln.
Jérome war bemüht, seine Selbstdarstellung stets zum gleichen Zeitpunkt stattfinden zu lassen. Er wollte sicher sein, dass die Breslauer Bürger diesen kannten und deshalb möglichst zahlreich erschienen, um ihn in seiner ganzen Herrlichkeit erblicken zu können. Vereinzelte Hochrufe während seines Ausritts zauberten ein breites Lächeln auf sein schmales junges Gesicht.
In Breslau ging damals das Gerücht um, Jérome bade täglich in rotem Wein, was zur Folge hatte, dass man sich dort scheute, Rotwein zu trinken. Ein sicher übertriebenes Verhalten, dachte Christoph.
Christophs Tage in Breslau wurden zum Ende seines Aufenthalts durch ein tragisches Ereignis getrübt. In seinen freien Stunden ging er mit Kameraden des Öfteren zum Schwimmen an die Oder. Einer seiner Begleiter, ein befreundeter württembergischer Wundarzt und geübter Schwimmer, stieg wie gewohnt als Erster in den Fluss. Von der heißen Julisonne erhitzt, begab er sich hastig ins kühle Wasser, tauchte unter und wieder auf, schwamm ein paar Züge und verschwand plötzlich in der Flut. Kurz erhob sich noch ein Arm aus dem Wasser, dann war nichts mehr von ihm zu sehen. Die Kameraden, andere Badende und herbeigeeilte Oderschiffer suchten mit größtem Eifer nach ihm, mussten die Suche aber bald erfolglos einstellen.
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Ende Dezember 1807 kehrte Christophs Bataillon nach jeweils mehrwöchigen Aufenthalten in Frankfurt an der Oder und Fürstenwalde in die Heimat zurück und bezog die Garnison in Schorndorf. Im Frühjahr des folgenden Jahres nahm Christoph das unterbrochene Medizinstudium nach erteilter Beurlaubung wieder auf, wurde aber schon vor Ablauf des zweiten Semesters im März 1809 wieder einberufen.
Wie vier Jahre zuvor hieß der Gegner Österreich, das gemeinsam mit Großbritannien Napoleons Vorherrschaft in Europa ein Ende bereiten wollte. Nach spanischem Vorbild sollten die französischen Besatzer in einer Volkserhebung aus Deutschland vertrieben werden. Süddeutschland, Österreich geographisch am nächsten gelegen, bildete den Auftakt und Schwerpunkt der Kämpfe.
Wieder musste auch Württembergs König dem Kaiser der Franzosen ein Truppenkontingent zur Verfügung stellen. Christoph, der zu Beginn des Feldzugs zum Bataillonsarzt ernannt wurde, hätte sich über die Beförderung eigentlich freuen müssen, umso mehr als sein Vater ihn voller Stolz dazu beglückwünschte.
„Jetzt hast du's aber schon weit gebracht, Christoph. Mit einundzwanzig Jahren bist du schon Bataillonsarzt. Du wirst sehen, bald wirst du Regimentsarzt.“
Christoph, vor dem Einrücken zu einem kurzen Besuch in Thamm, lächelte höflich, um des Vaters Freude nicht zu trüben. Er dachte an die neuerlichen Strapazen, an seine blutige Arbeit auf dem Schlachtfeld und in den Hospitälern und wünschte sich ins beschauliche Tübingen zurück, wo er mit großem Eifer sein Studium betrieb, zuweilen auch, sofern Zeit dafür blieb, an den Treffen des schwäbischen Dichterkreises um den ebenfalls Medizin studierenden Justinus Kerner teilnahm, dessen meisterhaftes Spiel auf der Maultrommel alle bewunderten. An den Wochenenden durchwanderten sie mit dem dichtenden Philosophiestudenten Ludwig Uhland die reizvolle Umgebung des Neckarstädtchens. Mit gespielter Fröhlichkeit, im Innern aber beklommen winkten sie vom Flussufer aus dem von ihnen verehrten, unheilbar kranken Hölderlin zu, wenn er am Fenster seines Turmzimmers stand.
Dem anderen Geschlecht nicht minder zugetan, suchte Christoph in gleichem Maße auch dessen Nähe. Von Luise in das letzte Geheimnis der Liebe eingeweiht, war der vorher noch bestehende Rest an Schüchternheit dahingeschmolzen.
Klara hatte er nicht vergessen. Noch immer dachte er voll zärtlicher Zuneigung an sie. Das unausgesprochene Übereinkommen zwischen ihnen, ihre Liebe nicht in häufigem Briefwechsel zu zerreden, hatten beide nicht einhalten können. Christoph hatte nach einigen Monaten das Schweigen gebrochen und Klara in einem langen Brief seiner unveränderten Gefühle für sie versichert. Noch einmal sprach er von seinem Wunsch, um ihre Hand anzuhalten, sobald die Umstände es erlaubten.
Klara antwortete diesmal sofort, als ob sie auf seinen Brief gewartet hätte. Ihre Worte waren auch weniger zurückhaltend als damals. Sie habe sich ihrer Mutter mitgeteilt, schrieb sie, ihr auch seinen Brief gezeigt. Er sei ihr deshalb hoffentlich nicht böse. Ihre Mutter wie auch ihr Vater würden es begrüßen, wenn sie beide heirateten. Nur zum jetzigen Zeitpunkt sei das verfrüht, was er ja selbst auch schon geschrieben habe.
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