Dennoch gibt es beträchtliche Unvereinbarkeiten in den so entwickelten Theorien. Gerade dort, wo es zwar nicht unbedingt für technisch interessierte Menschen, aber für diejenigen spannend wird, die die verschiedenen, nur scheinbar getrennten Welten in ihrem Zusammenwirken verstehen wollen, hapert es beträchtlich. Schon Einstein hat damit gehadert, dass seine Relativitätstheorie nicht erklärt, warum ein Stein herunter fällt. Es gibt zwar seit Newton schöne Formeln, die diesen Vorgang beschreiben, doch die eigentlichen Zusammenhänge der beiden Theorien bleiben unklar.
Hatte dieses Zögern etwas mit Einsteins eigenem Leben zu tun? Als Igor nach dem Besuch der Alhambra durch die Straßen von Granada zog, wurden seine Gedanken wieder von den vielen schönen, oft noch jungen Frauen abgelenkt, die ihm dort begegneten. Aber war das wirklich eine Ablenkung? Lenkten sie ihn nicht vielleicht auf etwas ebenso sinnvolles,- auf Gedanken oder Gefühle, die ihn weiter führen konnten? Von Einstein war bekannt, dass er sich auch mehr zu manch einer Frau hingezogen fühlte, als ihm von der ihn damals umgebenden Gesellschaft erlaubt wurde. Er respektierte diese Gesellschaft möglichst weitgehend, was in jüdischen Kreisen ganz besonders verlangt wurde. Im eigenen Leben bedeutete das für ihn, dass er seinen Neigungen so diskret wie möglich nachging und sie vor der Öffentlichkeit verbarg. Hier galt das Dogma, dass zu kritische Dinge aus dem vermeintlich privaten Leben nicht hinaus dringen durften.
War es für Einstein ein zu kritisches Ding gewesen, daran zu rütteln, dass Raum und Zeit das Basissystem sind für all unserer Verständnis all der Welten, die es gibt? Igor hatte zu großen Respekt vor Einstein und den von ihm entwickelten Theorien, um das infrage zu stellen. Und was die vielen schönen Frauen in Granada betraf, so war ihm klar, dass diese sich gewiss nicht mit einem schon älteren und nicht sonderlich profilierten Mann wie ihm selbst einlassen wollten. Ganz besonders schien das in jüngster Zeit zu gelten, wo sich die Kluft zwischen jungen und alten Menschen immer weiter vertiefte.
Mit einer Mischung von Befriedigung und Frustration fuhr Igor am nächsten Tag nach Sevilla weiter und kam damit wieder an den Ausgangspunkt seiner Reise zurück. Wieder fand er eine Unterkunft mit einer hohen Dachterrasse. Er durchstöberte einen Tag lang auch diese ebenfalls ihm so schön vorkommende Stadt mit ihren berühmten Bauwerken und fand sich dann abends auf jener Terrasse in der überschäumend lustigen Gesellschaft von vielen jungen Backpackern aus aller Herren Länder. Er war ein oder sogar zwei Generationen älter als die meisten von ihnen, doch keiner,- und keine, wie er selbst leise vor sich hin murmelte,- schien sein höheres Alter irgendwie zur Kenntnis zu nehmen. Es wurde gelacht und gegessen und getrunken und geflirtet, und er fühlte sich nicht das geringste bisschen ausgeschlossen. Was hätte er sagen sollen, wenn er gefragt worden wäre, wie alt er ist? „ Ich bin so alt, wie ich mich fühle,“ kam ihm in den Sinn.
Am nächsten Tag musste er nach Berlin zurück fliegen. Mit seinem nicht allzu schweren Gepäck machte er sich auf zur Abfahrtstelle des Flughafenbus. Er fühlte sich völlig entspannt und schaute sich die lebendige Fußgängerzone an. Doch plötzlich fühlte er sich wie von einem Blitz getroffen. Eine unglaublich schöne Frau kam ihm entgegen. Der leicht knochige Typ ihres Gesichtes, die nach Regeln von Schönheitswettbewerben gar nicht schöne Stupsnase und die tiefschwarzen, etwas mehr als halblangen Haare sagten ihm sofort, dass es eine Thailänderin aus dem Isaan im Nordosten, also laotischer Abstammung war. Doch kaum hatte er ihre Schönheit und ihr Herkunftsland realisiert, war sie auch schon an ihm vorbei gegangen. Hatte sie ihn angeschaut? Nicht einmal daran konnte er sich im nächsten Moment erinnern. War das wichtig?
Was könnte denn wichtiger sein, überlegte er ein wenig später. Sollte er ein braver biederer Großvater sein und sein Leben den Kindern und Enkeln widmen? Er kaute mit unschönem Gefühl auf den Worten „brav“ und „bieder“ herum. Damit war die Antwort für ihn schnell klar. Unbewusst duckte er sich, als wolle ihn jemand angreifen. Ja, was wäre denn, wenn ich nicht brav und bieder bin, fragte er sich, fast wie zur Verteidigung. Er müsste täglich einen großen Teil seiner Zeit mit dieser Verteidigung verbringen, und am Ende würden wieder einmal die konservativen Elemente siegen,- ganz einfach schon deswegen, was sie viel mehr Ressourcen haben. Ist das der Grund, warum ältere Menschen meist konservativer werden? Er blieb die Antwort schuldig, merkte aber, dass für ihn diese Frage jetzt nicht im Mittelpunkt stand. Es wäre vielleicht besser, dieser ganzen Konfliktzone schlicht und einfach zu entgehen.
Was dann? Über Raum und Zeit nachdenken? Einstein nachstreben? Da musste er innerlich lachen. Doch ganz so lustig war die Sache nicht. Er lebte in einer Welt, wo praktisch alle Menschen in den überkommenen Kategorien von Raum und Zeit dachten. War uns die Stärke des Drucks, darin mitmachen zu müssen, gar nicht bewusst? Neigen wir ganz einfach dazu, dieses Problem zu verdrängen? Jetzt lachte er zwar nicht mehr, schmunzelte aber und fühlte sich fast schon wie ein wenig weiser. Wen interessieren denn schon Raum und Zeit? Dafür bekommst du kein Brötchen geschenkt, gehst anderen Menschen eher auf die Nerven damit.
Was denn? Er blieb stehen und machte unbewusst einen kleinen Schritt rückwärts. Einfach, schön und konsistent leben? Wieder musste er loslachen und wieder merkte er schnell, dass es auch hier nicht nur um Spaß ging.
Einfach war sein jetziges Leben sicher nicht. Was war es, das sein Dasein so kompliziert machte? Tausende von Regeln,- in Gesetzen fixierte, von der Gesellschaft akzeptierte und von einem Heer von zum Großteil gewiss überflüssigen Bürokraten verfochtene und zusätzlich noch in unbewussten stillschweigenden Tabus versteckte Regeln,- Regeln hier, Regeln dort,- wer musste da nicht nach Freiheit schreien? Aber kaum jemand tat das. Eine hoffnungslose Lage? Kaum jemand schien sich auch daran zu stören, dass diese Bevölkerung obendrein noch jenes riesige Heer von nicht schlecht bezahlten und gut versorgten Bürokraten finanzieren musste.
Und gab es Schönheit in seinem Leben? Er konnte bisweilen zwar hinfahren, wo es wirklich schön war. Das waren meist Gebiete, die schon von Leuten mit Beschlag belegt waren, welche gierig die Hände offen hielten. Schöne touristische Gebiete wie jetzt auf seiner Reise? Er konnte das nur mit Mühe und Not trotz stark reduzierter Ansprüche eine kurze Zeit bezahlen. Schöne Kulturveranstaltungen wie Theater, Konzerte und Ausstellungen? Teuer, teuer, und immer zur Passivität verurteilt. Schöne Menschen, gar eine schöne Frau? Die durfte er sich in dieser Welt als älterer Mensch vor allem im Fernsehen anschauen. Auch das wurde in zunehmendem und sehr fragwürdigen Maße finanziell von Leuten ausgeschlachtet, die gewiss weder Kunst ohne Establishment noch Religion ohne Kirche noch Wissenschaft ohne gewaltige Institutionen vertraten.
Zum Schluss kam noch die Frage nach Konsistenz an die Oberfläche. Aber wen interessierte das? Diese Wort gab es doch kaum oder gar nicht im Leben der meisten Menschen. War das nur sein eigenes Gehirngespenst? Dekonstruktivismus! Das kam ihm in den Sinn, als er daran dachte. Es schien ihm, als würde das zusammenhanglose Zersplittern unserer Welt sang- und klanglos akzeptiert und wie alles einfach als eine neue Kunstrichtung finanziell verwertet. Igor wurde fast wütend, als er sich klar machte, wie wenig die Menschen Zusammenhänge zwischen Kunst, Religion und Wissenschaft interessierten. Die Wirtschaft fördern, bis die Erde völlig zernagt ist,- Konsum, Konsum, Konsum!
Das ist alles nur ein großes Spiel, dachte er. Aber das Spiel gefiel ihm gar nicht. Was tun? In kleinen geduldigen Schrittchen versuchen, hier und da etwas zu ändern? Wieder verspürte er ein inneres Knurren. Einfach nicht mehr mitspielen? Wie sollte das möglich sein?
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