Als wir ankamen, musste ich erst 50 Yuan an einen Mann zahlen, damit ich Pipi überhaupt sehen konnte. Er brachte mich in den Keller. Wir kamen durch einen langen Gang und links und rechts hörte ich Hunde heulen. Er führte mich zu einer eisernen Tür und öffnete das Schloss. Als ich reinkam sprangen eine Menge Hunde an mir hoch und heulten und klammerten sich an mich. Es waren vielleicht 50 oder 60 Hunde in einem kleinen Raum.. Es war wahnsinnig laut und stank fürchterlich. Ich hab Pipi erst gar nicht gefunden, er saß ganz hinten in einer Ecke. Er hatte den Kopf am Boden, schaute nicht mal auf. Sein Haar war grau und er hatte mehrere Wunden. Ich stürzte auf ihn zu, rief „Pipi!“, da schaute er auf und ich nahm ihn in meine Arme, er zitterte, ich weinte. All die anderen Hunde flehten mich an, sie mit zu nehmen. …. Ich hätte sie natürlich am liebsten alle mitgenommen, aber ich fühlte mich so schwach. Ich konnte nur einen mitnehmen und die anderen taten mir so leid. Der Mann sagte, ich solle jetzt gehen und so schnell wie möglich zur Polizei und die Strafgebühr und die Steuer bezahlen. Ich sagte, ich würde das so schnell wie möglich tun.
Auf dem Weg nach Hause hatte ich Pipi in meinen Armen und er zitterte die ganze Zeit. Herr Tschü sagte, das sei normal für die Hunde, die dort gewesen seien. Sie seien so verängstigt, dass sie völlig verstört seien. Er sagte, ich solle ihm kein Essen geben und wenig Wasser, wenn ich zu Hause sei. Ich solle ihn einfach schlafen lassen und sich ausruhen. Als wir zu Hause waren, legte ich Pipi in sein Bettchen, aber er schlief nicht, er stand da und zitterte. Er trank und aß auch nichts und war still, drei Tage lang. Ich verbrachte viel Zeit mit ihm, redete mit ihm und streichelte ihn. Am vierten Tag begann er, zu essen. Aber es dauerte ungefähr eine Woche bis das Zittern aufhörte.
TschaTscha, die Mutter von Pipi, hatte nicht so viel Glück. TschaTscha lebte bei meinem Onkel und TschinTschin, meiner Cousine. Sie brauchten drei Tage, um raus zu finden, wo hin sie TschaTscha gebracht hatten. Drei Tage und Nächte war TschaTscha in dieser Hölle. Sie war in einem anderen Krankenhaus. Als sie nach Hause kam, aß sie eine Menge und mein Onkel wusste nicht, dass das gefährlich war. Kurz danach begann ihr Magen zu bluten. Sie wollten am nächsten Morgen in eine Tierklinik, aber am nächsten Morgen war sie tot.“
Je mehr Wohlstand nach China kommt, desto mehr Hunde sieht man auf den Straßen. Manchmal sieht man große, schöne, weiße oder grau-weiße Hunde aus Sibirien mit seidigem langem Fell, die mit würdigem Schritt neben ihrem stolzen Besitzer einherschreiten, kostbare Rassen aus Japan, Afghanistan oder Tibet. In der Polizei und der Armee sind die deutschen Schäferhunde zu Hause, denen man große Intelligenz und Tapferkeit nachsagt. In den Wohnvierteln weit verbreitet sind kleine Tiere, die gerne laut herumkläffen mit nervöser überdrehter Stimme, die manchmal ganz nackt rasiert sind und einen aus ihren ängstlichen Augen wie verrückt anstarren. In den armen Vierteln bei den alten Industrie- Anlagen treiben sich dreckige, struppige, kleine Hunde herum mit braunem Fell, die still sind, sehr vorsichtig und immer auf dem Sprung, weil vermutlich zu oft geschlagen oder vertrieben.
In jedem Viertel gibt es ein paar Hundesalons, in denen Hunde gewaschen, geschoren, gestriegelt und verhätschelt werden. Oft sieht man sie in Körbchen sitzen, die vor der Lenkstange an Fahrrädern und Rollern angebracht sind und stolz erhobenen Hauptes die Gegend bei leichtem Fahrtwind betrachten.
Mitte August war es heiß, sehr heiß, so dass schon das Treppensteigen eine Qual war. Völlig erschöpft kam ich oben im vierten Stock vor meiner Haustür an, wenn ich nach Hause ging. Schon morgens um acht war es heiß. Der Schweiß schoss aus allen Poren. Die Leute schwitzten und stanken. Ende August. Die Hitze wäre ja noch erträglich gewesen, es war die Schwüle, die hohe Luftfeuchtigkeit und der hohe Luftdruck, was kaum zu ertragen war, ständig hatte man das Gefühl, ein Gewitter läge in der Luft, das sich aber nicht entlud. Shanghai liegt auf dem Breitengrad von Kairo, Tunis, Tripolis und Tanger. Nordafrika in Shanghai….
Und dazu noch der Dreck überall, die verdreckte Luft, der Gestank von Fabrikschloten und Abgasen aus immer zahlreicher werdenden Autos. Die Stadt versuchte der ansteigenden Flut Herr zu werden, indem sie neue Zulassungen d.h. Autoschilder versteigerte an Meistbietende. Der Preis für eine Zulassung lag bei 30000 Yuan, d.h, ungefähr 3000 Euro, als ich vor vier Jahren nach Shanghai kann, heute im Jahre 2014 ist er bei 120 000 Yuan abgekommen, so viel wie ein neues Auto. Das scheint aber nur wenige abzuschrecken, Shanghai ertrinkt im Autoverkehr. Obwohl fieberhaft überall neue Straßen gebaut werden und die Straßen sich an manchen Stellen dreifach übereinander türmen. Als Ausgleich für die Hitze im Sommer ist es dann extrem kalt im Winter.
Wie auch immer, heute wollte ich raus, die Umgebung Richtung Stadtrand erkunden, wenn möglich aus der Stadt rauskommen, irgendwo gar nicht weit weg musste das Land anfangen, die Uni lag am Stadtrand. Ich packte meine kleine Kamera in den Rucksack, dazu eine Flasche Wasser, ein Deutsch-chinesisches Lexikon für alle Fälle, ein paar Bananen, Reserve –Batterien, ein Schreibheft nebst ein paar Kulis und trabte hinunter zu meinem Fahrrad. Ich dachte, mich am Huangpu zu halten, am Fluss entlang immer weiter raus zu fahren, der Stadtrand konnte hier nicht weit entfernt sein.
Ich nahm den Südwest-Ausgang und fuhr anschließend ungefähr eine halbe Stunde an einer ziemlich dicht befahrenen Straße entlang, der Fluss musste ganz in der Nähe sein, aber man konnte ihn leider nicht sehen, denn der Zugang zu ihm war Kilometer lang von Industrieanlagen besetzt. Eine Fabrik reihte sich an die nächste. Die Shanghai Dianji Company hatte hier ein riesiges Werk stehen, das sich ein paar km die Straße entlang zog. Eines der gigantischen Eingangstore war mit den bronzenen Statuen eines muskulösen Arbeitsmannes und einer großbrüstigenArbeismaid im Stil des sozialistischen Realismus geschmückt. Davor stand ein Schild mit dem Namen der Firma Siemens, die ein Gemeinschaftsunternehmen mit der Shanghai Dianji Company betrieb. Ich dachte an Berlin, wie wenig dort Industrie zu sehen war, nur die alten Fabriken aus der Gründerzeit mit ihrem roten Backstein sah man häufig, aber die wurden meistens bewohnt oder als Künstlerateliers genutzt. Hier aber war die Werkbank der Welt. Ununterbrochen schepperten und krachten Lastwagen an mir vorbei, eingehüllt in Staubwolken. Mein Mund und Rachen wurde dreckig trocken. Viele Radfahrer hatten einen Mund-und Nasenschutz über ihr Gesicht gespannt, sie sahen aus wie Chirurgen. Ich schwitzte und mein Körper fühlte sich kochend an wie in einer Sauna, aber es war mir egal, ich war aufgeregt und gespannt, wie ein Entdecker unterwegs in ein unbekanntes Land.
Endlich öffnete sich der Blick zu mehr Grün und Ackerflächen und verwilderten Grundstücken und kleinen Kanälen und dann fand ich einen Weg zum Fluss. Ich bog links ab, durchquerte ein Wohnviertel, das halb bewohnt, halb noch im Entstehen war und hatte plötzlich ein kleines Wäldchen um mich, eine Plantage kleiner Bäume, eine Baumschule vielleicht und dann endlich der Fluss. Breit und gemächlich zog er dahin und glitzerte in der Sonne.
Lastkähne zogen vorbei, in der Ferne sah ich auf breiten Stelzen stehende Kräne, die Schlepper mit Kies und Kohle beluden. Natürlich war der Strom dreckig aber es war dennoch ein erhebender Anblick, für einen Augenblick konnte man ganz vergessen, dass er so dreckig war. Man hatte eine Ahnung davon, wie schön er war, als sein Wasser noch frisch und klar war. Ein Strom von Glück kam einem entgegen, ein frischer Wind von Abenteuer. Nach einiger Zeit entdeckte ich, dass hier eine Fähre sein musste, denn immer mehr Leute sammelten sich in einem windschiefen Gebäude am Fluss, das eine Art Laderampe ins Wasser hinausstreckte.
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