1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Am Abend stellte ich mich am Hauptbahnhof vor dem Eingang in die lange Schlange, die sich durch ein Geländer gelenkt einer Sicherheits-Schleuse zu bewegte. Es dauerte nicht allzu lange und ging schnell voran. Mein Zug ging in einer Viertelstunde, das Ticket hatte ich schon. Die Nacht war hereingebrochen und der riesige Platz war überstrahlt von den elektronischen Wänden an den Hochhäusern ringsum, die ihre Werbefilme mit grellem Licht über die Menschen flimmern ließen. Tausende waren unterwegs, hetzten über den Platz, andere saßen auf den Betonmäuerchen um die wenigen Bäume herum oder einfach auf dem Boden oder standen in kleinen Gruppen zusammen. Ich legte meinen Rucksack auf das Band, das sie durch eine Maschine schob, wie man sie von Flughäfen her kennt. Ein paar Uniformierte standen um den Durchleuchtungs-Apparat herum. An allen chinesischen Bahnhöfen gibt es diese Sicherheitskontrollen. Und in den letzten Jahren sind sie auch an allen U-Bahn Stationen in China eingeführt worden. Vermutlich haben die Sicherheitsbehörden Angst vor Anschlägen. Im Südwesten des Landes sind die Tibeter nicht so erfreut über ihre Zwangseingemeindung ins chinesischen Reich und im Nordwesten sind es die Uguren, die von den Chinesen „Weiworen“ genannt werden, die immer wieder für Unruhe sorgen. Sie sind schon von ihrer äußeren Erscheinung her ein ganz anderer Volksstamm als die Chinesen, sind mit den Türken verwandt, überwiegend Muslime, backen dasselbe Fladenbrot, das die Türken in Deutschland zum Döner Kebab anbieten und viele von ihnen hassen die Chinesen, weil sie sich von ihnen unterdrückt fühlen. Es ist ein stolzes Volk. Im achten Jahrhundert hatten sie ein riesiges Reich, das sich von der heutigen Türkei bis zum Pazifik erstreckte. Dazu kommt noch die Furcht vor gewalttätigen Islamisten, die auch nicht so weit weg sind in Afghanistan. China hat eine gemeinsame Grenze zu Afghanistan. Und ein paar Millionen Muslime leben in China. Außerdem will man vielleicht schon mal vorbeugen für den Fall, dass es soziale Unruhen im Lande gibt. Also ein paar gute Gründe, vorsichtig zu sein.
Hinter der Sicherheitsschleuse ging es Rolltreppen hoch in einen breiten Gang von dem rechts und links die Wartehallen abgingen. In denen hingen in langen Bankreihen müde Menschen herum und glotzten auf die riesigen Fernsehwände. Ich setzte mich auf einen noch freien Platz und knabberte Schokoladenkekse. Die waren weitaus weniger schmackhaft als deutsche, die Chinesen verstanden nichts von Schokolade. Es gab in der chinesischen Kultur keine Tradition des Schokolade-Machens, das war eine Kunst, die erst in den letzten Jahren in China heimisch geworden war und in dieser Kunst waren sie noch lausige Lehrlinge. Aber auch hier lernten sie rasch. Es gab eine gute Schokoladen-Sorte in China, die allerdings sehr teuer war.
Eine Lautsprecherstimme schallte laut durch die Halle, bedrohlich rote Laufbänder kündigten den Zug an, zehn Minuten vor der Abfahrt. Alle ringsum erhoben sich und einige stürmten den Türen zu, die sich jetzt öffneten. Ich hatte, um Kosten zu sparen, für die Rückfahrt eine Art Regionalzug genommen. Ich hatte einen reservierten Platz, aber vielleicht hatten viele andere keine, die es jetzt so eilig hatten. Ich ging durch mehrere Kontrollstationen hindurch, wo man aber nur noch die Fahrkarte sehen und abstempeln wollte. Am Eingang zum Zug standen auch noch Kontrolleure herum, sie nahmen das sehr ernst mit den Kontrollen. Das ist in allen Bahnhöfen Chinas so üblich.
Beim Einsteigen drängten sich die Leute in einen Haufen zusammen und wühlten sich nach innen durch. Der Zug war so voll, dass im Mittelgang dicht gedrängt die Leute am Boden saßen, darunter viele Wanderarbeiter mit ihren dunklen wettergegerbten Gesichtern und ihren billigen, prall vollgestopften Plastik-Säcken, Kisten und Koffern, auf die sie sich setzten, rauchten und palaverten. Einer legte sich einfach mitten in den Gang, er sah so erschöpft aus, dass man ihn verständnisvoll da liegen ließ, obwohl er immer wieder zu komplizierten Ausweichmanövern Anlass gab, wenn jemand zur Toilette wollte am Ende des Ganges. Ab und zu erhob er sich und schaute sich um, als sei er unter Wasser und betrachte seltsame Fische, die um ihn herum geistern, aber er konnte die Augen kaum offen halten, glitt wieder zu Boden und fiel in einen ohnmachtsartigen Schlaf.
Shanghai Dianji University
War ich hier richtig? Das sah gar nicht nach dem Eingang einer Universität aus. Ich schaute mich noch mal um, der Taxifahrer nickte aus dem offenen Fenster und deutete auf den Eingang. Die Nummer stimmte zumindest, aber war das auch die richtige Straße?
Ich war unterwegs zu einem Vorstellungsgespräch. Auf einem meiner Ausflüge nach Shanghai hatte ich eine chinesische Frau kennengelernt, die zwei Jahre später meine Frau wurde. Wegen ihr war ich nicht, wie geplant, nach einem halben Jahr wieder nach Hause geflogen, sondern suchte einen Job in Shanghai. Als ich von einer Hochschule hörte, dass sie einen Deutschlehrer suchte, nahm ich Kontakt auf mit dem Sekretär der Abteilung auf, und er war an mir interessiert. Aber war ich hier richtig? Das sah eher wie der Eingang einer Fabrik aus. Da stand auch in großen goldenen Lettern: „Shanghai Dianji Company“ neben dem kleinen Wärterhäuschen. Ich ging zum Fenster und streckte den neugierig blickenden blau uniformierten Männern einen Zettel mit der Adresse entgegen, die ich mir aufgeschrieben hatte. Auch sie schienen ganz der Meinung zu sein, dass ich hier richtig war und deuteten freundlich lächelnd auf das Gelände, ich solle eintreten. Die ganze Gegend sah wüst aus, es war im Norden der Stadt, Industriegebiet durchsetzt von Wohnvierteln, am Eingang donnerten Staub aufwirbelnd dreckige Bau- Lastwagen vorbei und darüber erstreckte sich eine massige Hochstraße auf Stelzen bis zum Horizont. Na gut, dachte ich, schauen wir mal…
Als der Leiter meiner deutschen Schule gehört hatte, dass ich einen Job suchte bei der Shanghai Dianji University, hatte er laut gelacht: „Shanghai City University! Das sind die größten Gauner! Die kenne ich zufällig, weil wir mit denen eine Kooperation eingegangenen sind. Da habe ich nur schlechte Erfahrungen gemacht, die haben mich gnadenlos über den Tisch gezogen. Die haben immer nur neue Nachforderungen gestellt und Geld wurde nie ausgezahlt, wie es eigentlich vereinbart war. Wenn Sie dort regelmäßig ihr Gehalt bekommen, können Sie froh sein. Also da kann ich Ihnen nur abraten!“ Aber ich hatte mich davon nicht abhalten lassen. Es war immerhin ein Job in Shanghai und da war ich meiner Geliebten näher und einen anderen Job hatte ich trotz langem Suchen nicht gefunden, in Wuxi schon, aber das war 100 km von Shanghai entfernt.
Ich ging also etwas zaghaft auf das Gelände dieser merkwürdigen Firma, vielleicht teilten sie sich ja das Gelände mit der Uni. Und da tauchten auch Bäume auf und weiter hinten sah ich Grün und noch mehr Bäume und flach geduckte Gebäude, das sah dann schon eher nach Lehrgebäuden aus, da könnte es vielleicht sein. Ich steuerte auf eines dieser lang gestreckten niederen Gebäude zu, das, von Efeu überwachsen,verrußt und dreckig aussah. Eine Tür war offen. Vorsichtig schritt ich über den Steinboden in den langen dunklen Gang hinein, hinten sah ich Licht und Leute hin und her gehen und da kam mir ein jüngerer Mann entgegen: "Sind Sie Herr Wessinger?“ „Ja“ „Ich hab vor ein paar Tagen mit Ihnen gesprochen, ich bin Zhang Zhilian, ich mache die Verwaltung der Abteilung“ Er reichte mir die Hand. Zhang war proper und unauffällig gekleidet, mit einer grauen Hose, die eine Bügelfalte hatte, schwarzen glänzenden Schuhen, grauem, glatten oben offenem Hemd. Sein Gesicht war bleich und hinter seiner Brille schaute er ernst in die Welt. Sein Mund deutete ein Lächeln nur an: „Wir warten schon auf Sie“ Herr Wang führte mich ins Konferenz-Zimmer, wo an einem langen Tisch mehrere Menschen versammelt waren. Ich wurde reihum vorgestellt. „Direktor Guo, Professor Yu, Lehrer Chen und Ling und hier ihre künftige Kollegin Frau Zhou. Sie kommt grade aus Deutschland zurück.“ Sie nickte mir freudig zu.
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