„Dir merkt man ja gar nichts an“
Der Gegenüber sieht sie nicht, die einseitige Taubheit. Zwei Ohren sind ja offensichtlich noch vorhanden. Der Gegenüber bemerkt den einseitigen Gehörverlust normalerweise nicht. Denn ich bin ja nicht schwerhörig. Und dennoch! Ich fühle mich genauso wenig normal hörend wie taub.
Ich bin ein Mono.
Doch woran liegt es, dass einseitige Taubheit bei Nicht-Betroffenen klassischerweise mit Aussagen wie
„Ein Ohr funktioniert ja noch“
verbunden ist, anstatt als signifikante Einschränkung der Wahrnehmung? Ich habe den schlagartigen Wechsel von Stereo auf Mono erleben müssen und kann daher vermuten, weshalb.
1) Einseitige Taubheit ist für Außenstehende nicht sichtbar
Wenn ein Mono nicht gerade ein technisches Hilfsmittel am Kopf trägt, dann ist die einseitige Taubheit für gewöhnlich unsichtbar.
2) Viele Folgen von einseitiger Taubheit sind nicht bekannt
Der einseitige Gehörverlust bringt viele Folgebeeinträchtigungen mit sich, die kaum damit von der Allgemeinheit assoziiert werden.
Taubheit wird für gewöhnlich mit Stille verbunden. Dass vor allem Spätertaubte statt Ruhe tosende Ohrgeräusche wahrnehmen, überrascht viele Menschen. Fehlendes Richtungshören, Geräuschüberempfindlichkeit, erhöhter Konzentrationsbedarf, Verlustängste und weitere häufige Folgeerscheinungen sind außerhalb medizinischer Fachkreise kaum bekannt und werden in diesem Buch noch ausführlich erörtert.
3) Einseitige Taubheit ist kaum simulierbar
Wenn ein akustisch gesunder Mensch sich ein Ohr zuhält, dann ist seine Wahrnehmung doch nicht ganz Mono. Es bleiben weiterhin Umgebungsgeräusche gedämpft hörbar. Hinzu kommen ein deutliches Rauschen im zugehaltenen Ohr, genauso wie der wahrnehmbare ein- und ausströmende Atem. Was vielen Menschen nicht bewusst ist: Der Schall wird nicht nur über die Gehörknöchelchen an das Trommelfell, sondern auch durch Knochenleitung vom Schädel übertragen. Die mechanischen Schwingungen werden dann in elektrische Impulse umgewandelt, vom Hörnerv weitergeleitet und anschließend im Gehirn interpretiert. Dadurch kann eine Person, deren Gehörgang verschlossen ist, oder gewisse Störungen im Mittelohr besitzt, dennoch Höreindrücke erhalten.
Diesen Effekt haben sich unter anderem der berühmte, schleichend ertaubte Komponist Beethoven und der Erfinder des Grammophons Edison zum Nutzen gemacht. Es ist überliefert, dass Ludwig van Beethoven auf einen Holzstab biss, der mit dem Resonanzboden seines Klaviers verbunden war, um weiterhin sein Spiel wahrnehmen zu können. Der schwerhörige Thomas Alva Edison soll die Sache pragmatisch angegangen sein und hat direkt in den Tisch gebissen, auf dem ein Grammophon stand - und hörte. Es sind sogar Knochenleitungs-Kopfhörer erhältlich, bei denen die Ohren beim Hörerlebnis frei bleiben.
Kurz: Wer sich ein gesundes Ohr zuhält, wird dennoch etwas auf dieser Seite hören. Besonders eindrucksvoll kann dies unter einer prasselnden Dusche erlebt werden. Lautlos wird es durch das Ohrzuhalten nicht.
Die Folgen einseitiger Taubheit
Kopfschatten
„Stille Post“ hat fast jeder von uns in seiner Kindheit gespielt. Das Ziel des Spiels ist es, eine Botschaft nur durch das Flüstern ins Ohr von Person zu Person entlang einer Menschenkette zu übertragen, bis der letzte in der Reihe diese empfängt und laut vorträgt. Spiele ich nun als Mono dieses Spiel mit, so steht die Chance bei 50 Prozent dass die Botschaft bei mir ins Leere läuft. Je nach Spielrichtung kommt die Sprachnachricht auf meinem gesunden Ohr an und ich verstehe. Wird mir ins taube Ohr gesprochen, kommt die Information nicht an. Sie kann nicht gehört werden.
Flüstern ist natürlich ein extremes Beispiel. Doch auch im akustischen Alltag ist das Ergebnis des Verstehens von Sprache für einen Mono ohne technische Hilfsmittel stark richtungsabhängig. Liegt die Schallquelle auf der tauben Seite, so müssen die Schallwellen den Weg um den Kopf nehmen, um ins gesunde Ohr zu gelangen und gehört zu werden. Durch diesen Umweg wird die Sprache gedämpfter wahrgenommen, da sich die Schallintensität reduziert. Möchte ich als Mono dennoch etwas verstehen, muss ich meine Konzentration zwangsläufig steigern. Kommt als Umgebungsbedingung noch Störlärm hinzu, zum Beispiel beim Spaziergang entlang einer verkehrsreichen Straße, ist das Verstehen häufig nicht mehr möglich.
Durch Drehung des Kopfes kann das gesunde Ohr aus dem sogenannten Kopfschatten hin zur Geräuschquelle ausgerichtet werden. Als Folge sitze ich als Mono meist mit gedrehter Kopfhaltung dem Gesprächspartner gegenüber. Diese Maßnahme optimiert die auditive Wahrnehmung, ohne dabei etwas aktiv an der Positionierung von Zuhörer und Sprecher zu verändern.
Doch Vorsicht: Dies ist eine Sofortmaßnahme zur Überbrückung von Gesprächssituationen kurzer Dauer. Wird das Hilfsmittel der Kopfdrehung zu lange am Stück oder zu häufig eingesetzt, können Verspannungen und Haltungsschäden daraus resultieren.
Ein weiterer zwischenmenschlicher Aspekt ist, dass eine gedrehte Kopfhaltung im Frontalgespräch unterbewusst vom Gesprächspartner als ein Anflug von Desinteresse oder Arroganz fehlinterpretiert werden kann. Vor allem bei den ersten Wortwechseln mit neuen, unbekannten Personen, wie etwa bei einem Geschäftsmeeting mit einem Zulieferer oder Kunden, sind wir Menschen sehr feinfühlig was die Körpersprache anbelangt.
Tipps zum Umgang mit Kopfschatten
1) Sorge aktiv für eine akustische Vorzugsposition
Egal ob im Auto, im Besprechungsraum oder am Bahnsteig: Mono habe Mut, aktiv für deinen akustischen Vorzugsplatz zu sorgen. Positioniere dich, soweit möglich, immer mit der akustischen Schokoladenseite zu deinem Gesprächspartner, auch wenn dies zum Beispiel einen Tausch deines Sitzplatzes oder einen Seitenwechsel beim Gang nebeneinander auf dem Gehsteig zur Folge hat.
2) Sorge für Transparenz
Traue dich offen auf deine einseitige Taubheit hinzuweisen. Ich habe bisher in diesen Situationen stets Verständnis von meinen Gesprächspartnern erhalten. Meine Frau und einige andere Personen laufen inzwischen sogar instinktiv auf meiner akustischen Vorzugsseite neben mir.
3) Sei offen für technische Unterstützung
Technische Hilfsmittel, wie ein Cros-Hörgerät oder ein Cochlea Implantat, können bei der Eliminierung des Kopfschattens unterstützen.
Fehlendes räumliches Hören
Ein Klassiker: Ich befinde mich in unserem Haus und suche verzweifelt nach meiner Frau.
„Schatz, wo bist du?“
rufe ich.
„Hier!“
antwortet sie kurz und knapp.
Ein akustisch gesunder Mensch wird sich nun fragen, was ich mit dieser lapidaren Alltagssituation aufzeigen möchte. Ein Mono wird vermutlich schmunzeln und sofort nachvollziehen können, was ich mit diesem Beispiel thematisiere.
Für meine Frau war es früher selbstverständlich, dass ein knappes „Hier“ meine Frage nach ihrem Aufenthaltsort vollständig beantwortete. Die Information nach dem „Wo“ bedurfte dabei keiner ausgesprochenen Beschreibung für sie, sondern wurde unterbewusst durch die akustische Antwort selbst als gegeben vorausgesetzt. Man hört ja, aus welcher Richtung die Antwort kommt. Doch eine intuitive räumliche Zuordnung von Schallquellen funktioniert bei einem Mono nicht mehr wie bei einem Stereo. Die Folge in diesem Beispiel ist, dass ich ratlos aus der Wäsche schaue und meine Frage mit der Forderung nach einer Raumangabe wiederhole.
Читать дальше