1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Eines Abends berichtete er mir über ein erstaunliches Dokument, das sein Leben in den letzten Jahren vollumfänglich gefesselt hatte. Er glaubte, der Bedeutung dieses Dokumentes auf die Spur zu kommen. So soll er kürzlich bei der Durchsicht der Hinterlassenschaft seiner Familie einen Brief des Komponisten an seine Gattin entdeckt haben, welchen sie aus der Irrenanstalt erhalten hatte. Es ist bekannt, dass Schumann in der Anstalt noch Fugen komponiert hat, die allerdings als verschollen gelten. Nun soll in diesem Brief ein Bezug zu einer dieser Fugen enthalten sein. Gottesmann war regelrecht darauf versessen, das Geheimnis dieses bisher unbekannten Werkes zu entschlüsseln. Es liess ihm keine Ruhe mehr und ich glaube, er wollte das Tongefüge dieser Komposition entschlüsseln. Er vermutete dahinter eine archaische Kraft.
Liebe Musikfreunde, ich kann mir nicht vorstellen, welche Bedeutung der Entdeckung einer bisher unbekannten und unter aussergewöhnlichen psychischen Bedingungen entstandenen Fuge zukommen würde. Im Rahmen dieser 200-Jahr-Feier und in bedauerlicher Abwesenheit meines verstorbenen Freundes sehe ich mich verpflichtet, die Musikwelt von diesen erstaunlichen Fakten in Kenntnis zu setzen. Was sie auch immer für die Menschheit bedeuten werden!“
Der Redner entfernte sich mit gesenktem Kopf. Es kam kein Applaus auf. Nach einer seltsamen Stille setzte Raunen ein. Eli sass nicht in ihrer Loge. Der Sitz neben mir war frei.
Beim nachfolgenden Fest auf dem Marktplatz rund um das Schumann-Denkmal setzte ich mich auf eine Mauer. Ich wollte mich nicht unter die Gäste und Musikfreunde mischen. Ich war nicht einer von ihnen. Nur der Zufall hatte es gewollt, dass ich mich an diesem Tag an diesem Ort befand. Und ich fühlte mich nicht glücklich dabei. Eine leichte Uebelkeit überkam mich. Eine Magenverkrampfung, dachte ich. Zudem hatten mich das Gehörte und die Ereignisse der vergangenen Stunden ziemlich irritiert.
Ich hatte mir meine Auszeit anders vorgestellt. Ich wollte zur Ruhe kommen, neue Kräfte sammeln, die früheren Zeiten nochmals Revue passieren lassen. Und nun sass ich auf einer Mauer unweit des Schumann- Denkmals und fühlte mich unbehaglich. Das Thema der letzten Variationen Schumanns schwirrte in meinem Kopf und übertönte die Stimmen und festlichen Geräusche auf dem Hauptmarkt. Ich konnte die Liebe spüren, die von dieser einfachen Tonfolge ausging. Warum hatte die Frau des Komponisten dieses Werk so lange unter Verschluss gehalten? Hatte sie wirklich gemeint, der Geisteszustand ihres Mannes habe die Komposition in ihrer Bedeutung gemindert? Oder hatte sie die Kraft der Liebe darin gespürt und sie deshalb für sich behalten? Waren Schuldgefühle im Spiel? Was war mit den verschollenen Fugen? Hatte sie auch diese zurückbehalten? Und weshalb?
Gedankenverloren blickte ich mich um. Es war viel Leben und Freude auf diesem Platz. Ich wusste nicht, ob sich Schumann in seiner bekannten Verschlossenheit darüber gefreut hätte. Aber so waren eben die Menschen. Wenn es etwas zu feiern gab, waren sie dabei und konnten ihre Nöte und ihren Kummer für einige Zeit vergessen. Bei mir war das nicht so. Ich mied grosse Menschenansammlungen und fühlte mich nur in kleinem Kreis wohl. Bei grossen Anlässen wurde ich zum Betrachter und machte mir Gedanken über dieses und jenes, über das Befinden und Wesen der Anderen.
Dann sah ich sie wieder, Eli. Sie stand unter einem grossen Baum im Schatten riesiger Blätter. Die Baumkrone wippte im sanften Wind, und die Schatten gebenden Konturen der Wipfel umspielten die kleine Gestalt. Dann erschrak ich. Ich erkannte die beiden Verleger, die wild gestikulierend auf Eli einwirkten. Die Frau wich gegen den Baumstamm zurück. Man konnte ihr Ungemach erkennen. Sie war zwischen den beiden Herren und dem Baum eingeklemmt. Fast schien es, als wollten die Verleger handgreiflich werden und Eli fort reissen. Plötzlich schienen die Herren den Bogen überspannt zu haben, denn Eli holte zu einem heftigen Tritt aus und traf erst den einen, dann den anderen mitten in den Schritt. Geschickt nützte sie das Ueberraschungsmoment und lief davon. Die verdutzten Herren blieben in gekrümmter Haltung zurück und blickten vorsichtig um sich, als wollten sie die Peinlichkeit verbergen.
Ich sprang von der Mauer und mischte mich unters Volk, verzweifelt nach Eli Ausschau haltend. Sie war nirgends zu sehen. Die Frau hatte es wirklich in sich. Wohl war mir ihr aufbrausendes Wesen in Erinnerung. Aber zwei Herren auf einmal gefechtsuntauglich zu schlagen und dann vom Erdboden zu verschwinden war wirklich eine starke Leistung.
Unbewusst griff ich nach dem Zettel in meiner Jackentasche. Ich spürte ein Brennen an den Fingerspitzen, als ich ihn berührte. Gab es einen Zusammenhang zwischen den Noten auf dem Papier und den Ereignissen auf dem Marktplatz? Was wollten die Verleger von Eli? Ging es um ihren verstorbenen Grossvater?
Gedankenversunken blieb ich vor einem CD - Stand mit Musik von Schumann stehen. Es waren die bekannten Werke, die sich immer gut verkauften, veredelt durch illustre Interpreten, sogenannte Starpianisten und Stardirigenten. Die Musik war längst zum Geschäft geworden und viele verdienten sich eine goldene Nase mit den Werken längst verstorbener Komponisten.
„Guten Tag Herr Vonstahl, kennen wir uns nicht?“
Verblüfft drehte ich mich um und sah den beiden Verlegern direkt in die Augen. Der eine war korpulent, mit groben Zügen, der andere hager und bleichgesichtig, mit stechenden Augen. Der Dünne schien der Wortführer zu sein.
„Nun ja, Sie kommen mir bekannt vor, bitte helfen Sie mir auf die Sprünge“, antwortete ich geistesgegenwärtig.
„Wir haben uns oft im Hause von Professor Gottesmann gesehen, als Sie vor etlichen Jahren Musikunterricht nahmen. Wir glauben, dass Sie eine besondere Beziehung zu dem Verstorbenen hatten. Er sprach immer gut von Ihnen, wenn wir uns mit ihm zur Besprechung von Publikationen trafen. Das war eine riesige Leistung des Professors, wenn man bedenkt, wie viele Kompositionen Schumanns bisher nicht veröffentlicht wurden. Und wie Sie sicher wissen, wurden ja viele Werke nur bruchstückhaft geschaffen und teilweise nicht zu Ende geführt. Diese Aufgabe muss den Verstorbenen verbraucht haben. Sicher ist er deshalb so unerwartet gestorben. Nun, dürfen wir Sie fragen, was uns die Ehre verschafft, Sie hier in Zwickau zu treffen?“
„Ich wollte einen Urlaub in Berlin verbringen, als ich vom Tod Gottesmanns und von den Feierlichkeiten zum 200sten Geburtstag Schumanns erfuhr. Ich fühlte mich moralisch verpflichtet, hierher zu kommen.“
„Eine edle Geste“, meinte der Dünne und blickte den Dicken vielsagend an. „Gestatten Sie, dass wir uns mit unseren Namen vorstellen. Ich heisse Matthias Gnadnoth vom Notenverlag H. und B. und dies ist mein Partner Ulrich Sauerkampf.“
Nun, das war die Bestätigung, dass mich meine Erinnerung nicht getäuscht hatte. Es waren in der Tat die beiden Herren, die tagein und tagaus die Wohnung von Professor Gottesmann frequentiert hatten. Es war schon früher so gewesen, dass immer der Dünne das Wort führte und der Dicke sein Einverständnis mit zustimmendem Nicken kundtat.
„Wir fühlen ganz mit Ihnen, Herr Vonstahl. Der Tod von Professor Gottesmann hat uns ebenso schwer getroffen, war er doch ein begnadeter Musiker und guter Kunde. Und so vieles ist unerledigt geblieben. Ein Menschenleben, das uns so kurz vor Vollendung seines Lebenswerkes entrissen wurde!“
„Ich glaubte, Sie hätten das Klavierwerk bereits neu herausgegeben.“
„Ja natürlich, wenn man die kompositorischen Schöpfungen Schumanns in ihrer Gesamtheit überhaupt jemals überblicken kann. Sie wissen natürlich, dass, wie im soeben gehörten Vortrag erwähnt, so Vieles unfassbar und verborgen geblieben ist. Insbesondere diese unglaubliche Geschichte der verschollenen Fugen und des bisher unbekannten Briefes an die Gattin. Aber sicher langweilen wir Sie. Ohne Zweifel wissen Sie durch ihre intimen Kontakte zur Familie des Verstorbenen viel mehr über all diese Dokumente. War doch auch die Enkelin des Verstorbenen Ihnen früher immer sehr zugetan. Das glaubten wir jedenfalls. Bitte korrigieren Sie mich, wenn es nicht zutreffen sollte. Diese Eli, diese Blicke! Sie hat Sie mit ihren riesigen Augen beinahe verschlungen.“
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