Im Programmheft des heutigen Abends wurde im Anschluss an das Konzert eine Ansprache angekündigt. Anstelle des vorgesehenen Professors würde der Direktor der Musikschule Zwickau, ein guter Freund des Verstorbenen, einige Worte an das Publikum richten. Man konnte gespannt sein, was er in der unvorhergesehenen Situation mitteilen würde.
Ueberrascht war ich von der Auswahl der Darbietungen, alles Werke des Jubilars. So standen fast ausschliesslich Interpretationen seiner Frühwerke auf dem Programm, mit Ausnahme einer sehr umstrittenen und fast nie in Konzertsälen gehörten Komposition: seine letzten Variationen für Klavier, die sogenannten Geistervariationen, die seine Ehefrau unter Verschluss gehalten hatte. Sie befürchtete, das Werk könnte durch die Erkrankung ihres Gatten beeinflusst worden sein und seinem Ruf schaden. Die Komposition wurde erst in den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts veröffentlicht, und die Musikwelt war sich bezüglich des kompositorischen Gehalts des Werks uneinig. Hatten die umstrittenen Variationen am Schluss des Konzertes eine tiefere Bedeutung?
Der Gong erklang und die Leute begaben sich in den Konzertsaal. Ich hatte einen Platz am hinteren Ende des Saals, wo sich mir ein guter Ueberblick bis in die seitlichen Logenplätze bot. Mein Interesse galt nebst dem musikalischen Ereignis auch den anwesenden Musikfreunden.
Der Dirigent eröffnete den sinfonischen Teil des Konzertes, nachdem sich das übliche Husten und Stühlerücken des Publikums gelegt hatte. Ich liess mich mit geschlossenen Augen in die Tiefen der wunderschönen Musik herabgleiten und erschrak förmlich, als der tosende Applaus einsetzte und ich den Ellbogen meines Nachbars in meiner Flanke spürte. Offenbar hatte ich ihn gestossen. Ich wollte mich soeben entschuldigen, als ich den traurigen Herrn mit dem melancholischen Blick zu erkennen glaubte, der, seinen Arm auf der Lehne abgestützt, mit der linken Hand seinen Kopf hielt. Er erhob sich jedoch in diesem Moment, nickte mir freundlich zu und entfernte sich zwischen den Stuhlreihen des noch halb abgedunkelten Saals.
Ich blickte mich um und dann sah ich sie: in einem der Logenplätze. Ganz sicher war ich allerdings nicht. Aber dann begegneten sich für einen kurzen Augenblick unsere Augen. Ich erkannte in ihren Mundwinkeln ein kurzes, scheues Lächeln und den tiefen, durchscheinenden Blick ihrer Pupillen. Es war Eli, die Enkelin des verstorbenen Professors. Ich wusste nicht warum, aber mein Pulsschlag beschleunigte sich und es überlief mich ein prickelnder Schauer. Ich wagte nicht, noch einmal hinauf zu blicken und war froh, als der Saal sich wieder abdunkelte und ich mich in die Anonymität des Konzertsaals verkriechen konnte. Hatte ich Angst vor dieser Begegnung?
Schon als Kind war mir Eli etwas unheimlich gewesen. Man wusste nie so recht, was in ihr vorging. Sie konnte recht borstig sein, hatte aber auch ihre lieblichen Seiten. Man konnte ihre innere Reife schlecht abschätzen, einesteils war sie Kind, andernteils erschien sie altklug und erwachsen.
In dem kurzen Augenblick der Begegnung unserer Augen glaubte ich wieder dasselbe, undefinierbare Wesen zu erkennen. Es konnte durchaus sein, dass das Bild, das ich mir von Eli machte einer in mir schlummernden Vorstellung entsprach.
Ich wandte mich zum Sitz neben mir. Er war leer.
Der zweite Teil des Konzertes bestand ausschliesslich aus Klavierwerken. Sie waren mir grösstenteils bekannt. Der wohl beste Schüler des verstorbenen Professors interpretierte sie gut und mit tiefem Empfinden. Man konnte spüren, wie Gottesmann seine volle Hingabe an das Werk Schumanns auf seinen Schüler übertragen hatte.
Dann, just vor der Wiedergabe der letzten, noch wenig bekannten Variationen geschah etwas Merkwürdiges. Beim Nachstellen der Notenbank geriet dem Pianisten, der sich kurz erhoben hatte, versehentlich die Brille zwischen die Saiten. Er musste sich nach vorne beugen, schien kurz zu schwanken und verlor beinahe das Gleichgewicht. Es war nicht auszumachen, ob das Loslösen der Brille aus den Saiten die Ursache war. Jedenfalls entwich ein grässliches, dissonantes, fast stöhnendes Geräusch dem prächtigen Flügel, sodass ein dumpfes Raunen durch den Zuschauerraum ging.
Der Pianist war sichtlich irritiert, als er sich wieder setzte und holte ein weisses Taschentuch aus der Hose, um sich den Schweiss von der Stirne zu wischen. Dann legte sich Stille über den Saal. Die Luft war zum Zerreissen gespannt, kein Husten, kein Stühlerücken. Während der nachfolgenden Wiedergabe der Variationen nahm ich starke Gefühle wahr. Unruhe, Erwartungsangst, Sehnsucht.
Berührt liess ich mich durch den tosenden Applaus von der Unwirklichkeit der seltsamen Empfindungen erlösen.
Noch bevor ich mich dem Beifall anschliessen konnte, spürte ich wieder einen Ellbogen in meiner Flanke. Kleine Finger krabbelten zu meiner linken Hand und verstauten ein zerknülltes Stück Papier darin. Instinktiv ergriff ich den Zettel und umschloss ihn fest. Als ich mich umsah, hatte sich Eli bereits vom Nachbarssitz erhoben und entfernte sich zwischen den Stuhlreihen zum Ausgang hin. Sie blickte kurz zurück und rief mir zu:
„Wir kennen uns.“
Dann war sie verschwunden. Ich schob das Papier in meine Jackentasche.
In der Pause begab ich mich in die Vorhalle und griff nach dem Papierknäuel in meiner Jacke. Ich musste ihn glätten, um zu erkennen was darauf stand.
Es war eine Notenspirale mit zwölf Notenköpfen: vier unausgefüllte, acht gefüllte, zwei davon punktiert:
Ich stand vor einem Rätsel. Zum einen konnte ich mit dieser Tonfolge nichts anfangen. Es fehlten der Notenschlüssel, die Notenhälse, der Rhythmus und die Taktstriche. Zum anderen hatte ich keine Ahnung, weshalb mir Eli diese Notiz hatte zukommen lassen. Es blieb jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Anwesenden strömten wieder zu den Saaleingängen. Zudem waren meine Gedanken bereits bei der bevorstehenden Ansprache des Musikdirektors. Ich steckte den Zettel ein. Von Eli keine Spur.
Im Konzertsaal betrat ein grauhaariger, leicht korpulenter Herr die Bühne. Er wirkte gehemmt und war sichtlich gerührt. Nachdem er seine Lesebrille aufgesetzt hatte, begrüsste er die Anwesenden und drückte seine tiefe Trauer über den Tod seines Freundes aus. Seine Stimme schien zu versagen. Er konnte sich aber rasch wieder auffangen, wischte sich mit einem weissen Taschentuch über die Wangen und begann mit einem Rückblick auf das Leben des Komponisten.
Schumann wurde in Zwickau geboren, erlebte seine Ehejahre in Leipzig und Dresden, bis er sich mit seiner Familie als städtischer Musikdirektor in Düsseldorf niederliess. Leider waren seine letzten Lebensjahre von einer seelischen Krankheit geprägt, und er musste nach einem Selbstmordversuch die Zeit bis zu seinem Tod in einer Irrenanstalt verbringen. Alles bekannte Fakten. Man konnte durch das zunehmende Gehuste und Flüstern spüren, dass das Publikum leicht gelangweilt war. Die Spannung nahm jedoch abrupt zu, als der Referent noch kurz auf das Schaffen des verstorbenen Nachfahren zu sprechen kam:
„Meine geschätzten Musikfreunde! Sie alle wissen, dass ich dem Verstorbenen aus tiefstem Herzen verbunden war. Sein Wirken und sein Bemühen, die kompositorische Hinterlassenschaft seines Ahnen ins richtige Licht zu stellen, kann niemand vergessen. Insbesondere war er in seinen letzten Jahren mit ungebrochener Hartnäckigkeit damit beschäftigt, die letzten Werke des grossen Meisters neu zu bewerten. In vielen Gesprächen, die ich mit ihm führen durfte, hat er immer wieder auf seine Ueberzeugung hingewiesen, dass das kompositorische Schaffen Schumanns in seinen letzten Jahren, entgegen der herkömmlichen Meinung, durch das Auftreten seiner seelischen Probleme keinesfalls beeinträchtigt war. Im Gegenteil hätten seine letzten Kompositionen deutlich an Kraft gewonnen und zeigten sogar Aspekte eines übersteigerten musikalischen Bewusstseins.
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