„Hast du Zugang zu dieser Bibliothek?“
„Weiss nicht. Müsste ich versuchen.“
„Aber um Himmels Willen, Eli, du bist doch die einzige Hinterbliebene dieser Musikerfamilie! Du wirst auch die Erbin der Hinterlassenschaft deines Grossvaters sein.“
„Es würde mich nicht erstaunen, wenn Gottesmann sein gesamtes Vermögen und all seine musikhistorischen Dokumente einer Stiftung oder dem Schumann-Haus vermacht hätte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er seine Versagerenkelin berücksichtigen wollte.“
„Von welchem Schumann-Haus sprichst du?“
„Nun, von der ehemaligen Heilanstalt in Bonn-Endenich.“
„Du meinst die Irrenanstalt, in welcher Schumann seine letzten zwei Lebensjahre verbracht hat?“
„Genau diese.“
„Aus dieser Nervenklinik hat Schumann doch den Brief an seine Gattin geschrieben. Und an demselben Ort hat er noch komponiert. Vielleicht sollte man einmal dort vorbeischauen.“
„Josch, du....“
„Ja, was?“
„Guten Abend, Herr Vonstahl. Ihre Hausmutter aus der Pension Rosenblum sagte mir, ich würde Sie im Park antreffen. Mein Name ist Hubert Bärmann, Kriminalkommissar der Kriminalinspektion Berlin Mitte. Ich suche Frau Elisabeth Schrag, die Enkelin des verstorbenen Siegfried Gottesmann. Sie sollen womöglich wissen, wo sie sich aufhält.“
„Ja klar. Da sitzt sie ja vor Ihnen.“
Ich drehte mich zu meiner Gesprächspartnerin um: Da war niemand mehr.
„Nun, ich meine....., da sass sie eben noch .“
„Herr Vonstahl, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir die Anschrift von Frau Schrag geben könnten. Es handelt sich um den Todesfall Gottesmann und um den Einbruch in seiner Wohnung. Sie haben sicher darüber gelesen. Frau Schrag sollte mir bei der Inventarisierung der verwüsteten Wohnung behilflich sein. Es gibt sonst niemanden, der sich im Heim des Musikers auskennt.“
„Ich wäre Ihnen gern behilflich Herr Kommissar, aber wie Sie sehen, ist die Gesuchte gerade verschwunden. Man könnte sagen, sie meidet Sie wie der Teufel das Weihwasser. Beim besten Willen kann ich Ihnen nicht sagen, wohin sie entwichen ist. Und noch viel weniger weiss ich, wo sie sich normalerweise aufhält. Die Frau ist so flüchtig wie der Duft des Frühlings und so unfassbar wie der Wind.“
Kommissar Bärmann stutzte und wölbte erst seinen imposanten Bauch gegen mich, dann sah er sich im Gebüsch hinter der Bank um. Aber da war auch nichts. Ich war nicht erstaunt. Langsam gewöhnte ich mich an die flüchtigen Begegnungen mit diesem Geschöpf. Eine Spur Hilflosigkeit breitete sich in mir aus. Wir hatten unsere Konversation nicht zu Ende geführt und ich fühlte mich kaltgestellt.
„Herr Vonstahl.“
Der Kriminalpolizist hatte sich wieder vor mir aufgestellt. Sein Körper war wirklich imposant. Dagegen schien sein Kopf zu klein und ich konnte keinen Hals sehen. Die Birne steckte wie aufgesetzt in seinem massigen Leib und sein Brustkorb seufzte und ächzte bei jedem Atemzug.
„Woher kennen Sie diese seltsame Frau?“
„Ich war Schüler des Professors und kenne sie flüchtig von früheren Jahren.“
„Sie sassen aber recht vertraut beieinander.“
„Ich bitte Sie, Herr Kriminalkommissar, wollen Sie mir eine ungebührliche Vertrautheit unterstellen? Wir haben ein Gespräch über ihren berühmten Ahnen geführt, weiter nichts.“
Hubert Bärmann wirkte amüsiert und rieb an seiner knolligen Nase.
„Wollen Sie damit sagen, dass zwischen Ihnen beiden nichts läuft?“
„In der Tat, zwischen uns läuft nichts. Und wenn Sie es ganz genau wissen wollen: Mit dieser Frau kann gar nichts laufen, denn sie ist absolut unnahbar und verknorzt. Verstehen Sie mich?“
„Nun, ich habe etwas Mühe, Sie zu verstehen, wenn man bedenkt, wie schön diese Frau ist.“
„Sie können es ja gerne mal bei ihr versuchen. Aber ich warne Sie, es könnte gefährlich werden. Schützen Sie allemal Ihre Männlichkeit!“
„Wie Sie meinen, Herr Vonstahl. Ich überlasse Ihnen meine Anschrift und Telefonnummer für den Fall, dass Sie zweckdienliche Angaben zum Fall Gottesmann zu machen haben. Ich bitte Sie zudem dringend, mich umgehend zu benachrichtigen, wenn Sie Kenntnis vom Aufenthaltsort Ihrer flüchtigen Dame bekommen.“
Damit verabschiedete sich Kriminalkommissar Bärmann und wankte breitbeinig davon.
Ich betrachtete seine Karte und beschloss, noch etwas auf der Bank sitzen zu bleiben. Ich musste meine Gedanken sammeln und die Unterhaltung mit Eli verarbeiten. Das Rascheln der Blätter in der Abendbrise besänftigte meine aufkommende Unruhe. Ich entspannte mich und versuchte, mir Klarheit über die unterbrochene Konversation zu verschaffen.
Wusste Eli wirklich nicht, wo der Brief Schumanns an seine Gattin war? Hatte ihr Grossvater eine spezielle Verbindung zur ehemaligen Nervenheilklinik in Endenich unterhalten? Es schien doch merkwürdig, dass sie von allem einfach nichts zu wissen vorgab. Spielte sie mit mir? Oder spielte sie gar ein Doppelspiel? Meinte sie, dass ich irgendwelche Informationen besass, die sie unbedingt brauchte? Schliesslich war sie ja auch beim Wohnungseinbruch zugegen gewesen. Hatte sie selbst auf der Suche nach dem Brief oder anderen Dokumenten die Unordnung in der Wohnung herbeigeführt? Und hatte sie wirklich ihren Grossvater umgebracht oder sich das nur eingebildet? Warum die Erwähnung des Schumann-Hauses? Lag die Lösung in der ehemaligen Irrenanstalt?
Meine Gedanken fingen an zu kreisen und plötzlich fühlte ich mich in alte Zeiten zurückversetzt. Ich malte mir die berüchtigte Nervenheilanstalt aus, wo Schumann Briefe und Kompositionen verfasst hatte. Ich stellte mir vor, dass das Gebäude verlassen auf einem Hügel stand, umgeben von Bäumen, die sich im Wind beugten. Gekrümmte Gestalten schleiften sich mühsam im Klinikpark umher. Einige wild gestikulierend, andere in sich gekehrt. Wärter standen herum und beobachteten ihre Patienten. Im Obergeschoss des Gebäudes standen Fenster offen und schlugen leicht hin und her. Aus diesen Räumen strömten Klavierklänge in den Park. Eindringlich heftige Musik. Dazwischen sanfte Akkorde, vibrierende Saiten, Flötengesänge. Wer konnte aus einem Flügel solche Töne hervorbringen? Mein Kopf wurde von einer Welle fast überirdischer Melodien erfasst und ich schien leicht zu schwanken. Ein Gefühl von Leichtigkeit wollte mich hinweg ziehen. Auf einer Wolke reiner Seligkeit liess ich mich treiben.
Plötzlich wurde ich von einem unheimlichen, bedrohlichen Klangschall ergriffen. Eine dissonante Gegenströmung bahnte sich ihren Weg durch herrliche Tonschöpfungen. Es schien, als wären die Saiten des Flügels plötzlich verstimmt und kämpften mit aller Gewalt gegen die lieblichen Klänge der beseelten Harmonien. Dieses titanische Aufbäumen der Musik wollte mich zerreissen, als ich plötzlich fühlte, wie jemand neben mir mich sanft an den Arm stiess.
„Eli!“
Ich blickte neben mich. Oh nein. Nicht schon wieder. Eine gebückte Gestalt, den Kopf auf den linken Arm gestützt, den Blick geradeaus, sass neben mir. Mit seiner rechten Hand schien der Mann beruhigend nach mir greifen zu wollen. Doch er zögerte oder konnte nicht. Er war gehemmt, wie gelähmt. Der fremde Herr konnte mich nicht erreichen und doch gab es eine intensive Verbindung zwischen uns. Es war wie eine Klangbrücke. Eine vertraute Melodie verband uns. Für einen Moment glaubte ich, verrückt zu werden. Ich musste mich halten, mich fest an die Bank klammern, um nicht in die Unendlichkeit zu stürzen.
Und dann fühlte ich wieder deutlich das kühle, rettende Holz der Bank. Erleichtert fand ich zurück in die wirkliche Welt. Ich blickte mich um und stellte fest, dass ich allein auf der Bank sass. Eine humpelnde Gestalt verschwand hinter den Bäumen gegen das aufkeimende Abendrot.
Ich wischte mir die Augen, um klarer zu sehen. Der Schweiss drückte durch die Poren meiner Stirne. Panische Angst ergriff mich. Angst, ich könnte die Kontrolle verlieren. Stand ich vor einer Spaltung meiner Persönlichkeit? War ich im Begriff wahnsinnig zu werden? Hatte ich echte Halluzinationen oder waren es harmlose Tagesträume? Konnte ich Musik nicht nur hören, sondern sehen? Konnte mein Gehirn Melodien hervorbringen ohne mein bewusstes Dazutun? Und was hatte das alles mit einer mysteriösen Fuge Robert Schumanns zu tun? Wer oder was löste in mir diese abgrundtiefen Gefühle aus? Steckte Eli dahinter?
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