„Ich“, sagte Victoria.
„Woher kennen Sie Marconi, Frau Winter?“ „Aus dem KZ Mittelbau Dora“, antwortete ihr Mann. Er legte einen Arm um ihre Schultern, „sie war als Zwangsarbeiterin dort.“
Benno sah die Winters an. Zwei alte Leute von über siebzig, sie hielten sich jetzt bei der Hand und als sie seinen Blick bemerkten, sahen sie ihn ernst, und wie er fand, mißtrauisch an. Sicher fühlten sie sich elend und hatten Angst. Ihm war nach Weinen zumute. Durch den Schleier seiner feucht werdenden Augen sah er den grell ausgeleuchteten Hof, die Männer der Spurensicherung in ihren weißen Kunststoffanzügen und diesen Doktor Szymczak, der gerade mit dem zweiten Kripobeamten sprach. Benno konnte ihn nicht hören, nur sehen, wie er mit seinen langen Armen vor dem Kripobeamten herumfuchtelte und theatralisch den Kopf in den Nacken warf. Sicher hat er es getan, dachte Benno. Jetzt erregte sich Szymczak so, daß sein Geschrei im ganzen Hof zu verstehen war.
„Sie verdächtigen mich? Ungeheuerlich! Ich bin ganz zufällig hier! Weil ich aus der Toilette kam und in die falsche Richtung lief. Ein Versehen, die falsche Richtung eben.“ Das ist ein Neurotiker, dachte Benno, wie aus einer Maschinenpistole kommen die Worte rausgeschossen. Jetzt trat er dicht an den Beamten heran und bleckte die Zähne, als wollte er ihn beißen.
„Und wenn ich´s gewesen wäre, dann müßte ich doch den Kopf des Toten haben! Wo ist er? Sie suchen herum, aber der Kopf fehlt.“ Das schien zu stimmen. Es war alles da, auch die Mordwaffe, wie Benno glaubte, aber der Kopf fehlte. Szymczak machte einen Schritt auf ihn zu.
„Fragen Sie doch diesen Herrn, es ist doch sein Messer, womit es gemacht wurde!“ Wie versteinert hörte Benno auf das unverständliche Gemurmel, mit dem der Kriminalbeamte antwortete und ihn dabei anblickte.
„Ach was, erst ins Labor. Quatsch!“, schnaubte Szymczak, hockte sich auf eine leere Getränkekiste und verfiel in ein stumpfsinniges Brüten.
„Was soll ich meinem Verwandten sagen? Schon seit gut einer Stunde erwartet er mich.“ Szymczak sprang auf und rannte erregt hin und her.
„Wie heißt ihr Verwandter?“, hörte Benno den Beamten fragen, der ihn dabei weiter ansah.
„Richard Brünn.“ Einen Moment hielten die Leute der Spurensicherung, der Arzt und die zwei Kripobeamten in ihren Bewegungen inne. Auch die alten Winters schienen aus ihrer Traurigkeit zu erwachen und hoben die Gesichter.
„Wenn Sie so freundlich sein wollen, uns zum Präsidium zu begleiten. Wir verständigen Herrn Brünn umgehend. Haben Sie Gepäck, Herr Doktor?“
Dieser Richard Brünn scheint Eindruck zu machen, dachte Benno und versuchte den forschenden Blick dieses Beamten, der ihn weiter ansah, zu ignorieren.
Kommissar Riemschneider trat zu einem Polizisten. Benno konnte nicht verstehen, über was sie sprachen. Aber weil ihn jetzt beide ansahen, glaubte er, daß es um ihn ging. Noch immer war Benno in Gedanken bei Szymczak und wunderte sich über die Beflissenheit, mit der die Polizei den Kerl behandelte, der so offensichtlich mit dem Mord zu tun hatte und darum, seiner Meinung nach, anders angefaßt gehörte. Benno schüttelte ungläubig den Kopf und lächelte den Kommissar an, als der auf ihn zutrat.
„Herr Wolf, ich verhafte Sie. Sie werden verdächtigt, diese Tat begangen zu haben.“
3
Sie saßen jetzt alle, Benno, die Winters und Szymczak, um einen ovalen Tisch versammelt in einem größeren Raum im Präsidium. Die Stühle zu Bennos rechter und linker Seite waren unbesetzt, während Szymczak dicht bei Herrn und Frau Winter sitzen durfte und gelegentlich einen raschen Blick über den Tisch hinüber auf Benno warf, der unruhig auf seinem Sitz herum rutschte. Daß man ihn nicht bei den anderen sitzen ließ, sondern absonderte, ihn damit hervorhob und zeichnete als einen, der nicht mehr zu den normalen Menschen gehörte, quälte Benno nicht. Es war ihm momentan sogar ziemlich gleich. Was ihn nervös machte, war sein Taschenkalender. Vorhin waren ihm alle seine Gegenstände abgenommen worden, darunter auch der Kalender. Der war fast ohne Eintragungen, und die wenigen Kritzeleien darin ohne weitere Bedeutung. Aber ganz vorne, gleich nach dem Deckblatt, stand in der Rubrik ‚Im Notfall zu verständigen‘ Milanas Name, ihre Telefonnummer und Adresse. Wenn sie das lesen würden und Milana anriefen, wenn sie ihr sagten, daß er in Untersuchungshaft genommen wurde… Alles sollten sie mit ihm anstellen, aber Milana durfte nicht erfahren, daß er ins Gefängnis mußte.
Benno schnappte hörbar nach Luft. Die beiden Kripobeamten hinter ihm, die von einem zum anderen liefen, stockten. Daß sie da herumliefen und er sie zeitweise nicht sehen konnte, quälte Benno. Es war ihm dabei, als stochere ein Zahnarzt mit einer Nadelspitze in einen offenen Nerv herum.
Er zog seine Schultern zusammen. Jedesmal, wenn der Dicke, dieser Riemschneider, sich ihm näherte, hinter seinem Rücken den Schritt verlangsamte, war es Benno, als würde er aufgefordert aufzustehen und etwas zu tun, zu sagen, eine Tat zu begehen, damit die Luft, die er anhielt, wieder strömte und der Kommissar nicht länger hinter ihm stehen bleiben mußte. Er fühlte sich schuldig, allein dadurch, daß er sitzenblieb, weiter die Luft anhielt und nichts tat, was den Kommissar Riemschneider aus seiner ihm sicher unbequemen Haltung in seinem Rücken, erlösen würde.
Er seufzte. Das passierte, ohne daß er es kommen gefühlt hatte.
„Sagten Sie etwas?“ Der Kommissar trat näher an ihn heran.
Benno wandte sich halb um.
„Tut mir leid.“
„Was tut Ihnen leid?“
„Ich wollte nicht seufzen. Es ist einfach geschehen.“ Er hoffte, daß dies so verstanden würde und ihn der Kommissar in Ruhe ließe und jetzt nicht Anlaß sähe, in ihm herum zu bohren, nur weil er unbeabsichtigt geseufzt hatte.
„Sie haben noch vor kurzem in Neuss gekocht. Warum sind Sie da weggegangen?“
Er will mich anschuldigen. Benno dachte das nicht, er fühlte es so, und es betäubte ihn. Der Beamte kam ihm wieder in den Sinn, der ihn ständig angestarrt hatte. Der war sicher mit diesem Riemschneider unter einer Decke. Dann fiel ihm die dicke, hängende Unterlippe des Kommissars auf. Er betrachtete den schweren Mann.
Eine häßliche, hängende Unterlippe. Es war ihm, als sei Riemschneider so ein Gesicht beschert worden von all den Verdächtigen vieler Jahre, mit denen er sich hatte befassen müssen. Von Leuten, die im Verhör lange leugneten und dann doch zusammenbrachen, die dann wie welker Salat in ihren Stühlen hingen, die Form verloren und plötzlich alt aussahen. Die hatten das Gesicht des Kommissars gezeichnet. Und jetzt sah er in ihm eine dieser Figuren, die es bald den anderen aus seiner langen Praxis gleichtun würde. Wenn er etwas wartete, dann ginge es mit Benno auch bald so nach unten. Als wolle er ihn dazu ermuntern, zeigte er diese hängende Unterlippe, die schon den Weg wies. Und das alles nur, weil Benno aus Versehen geseufzt hatte.
„Sie haben doch in Neuss gekocht?“
„Ja, hab ich.“
„Und, hat es Ihnen da nicht mehr gefallen oder warum sind Sie sonst weggegangen?“
„Also, die haben alles auf asiatisch umgestellt. Thai-Küche und so. Konnte ich nicht.“
„Sie wurden entlassen?“ Benno nickte. Er sah immer noch auf diese Lippe und brachte es nicht fertig, wegzusehen.
„Sie haben also Ihren Job an Ausländer verloren. Und hier kriegen Sie sicher weniger Geld, als drüben. Sind Sie denen böse?“ Benno versuchte zu verstehen, worauf der Kommissar hinauswollte.
Er stützte sein Kinn in die Hände und überlegte, ob er den Ausländern oder sonstwem böse war.
Das war kein schlechter Job gewesen. Allerdings Nachtarbeit. Die Gäste, meist Düsseldorfer Huren und ihre Zuhälter, die mitten in der Nacht, oder am frühen Morgen Station machten in der Kneipe, in der er kochte.
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