„Gibt es noch mehr auf eurer… auf unserer Seite?“ fragte Lysistratos.
„Die Zeit wird es zeigen. Noch ist das Gemetzel an den Drohnen zu sehr im Bewusstsein. Und diejenigen Königinnen, die mit uns sympathisieren, haben gleichzeitig Rubinrot vor Augen. Was geschehen kann, wenn Unordnung entsteht. Das möchte keine Königin. Auch Amalthea oder Tardena nicht. Zudem ist unklar, was deine, was unsere Ideen überhaupt bewirken… Wir haben zu wenig Zeit.“
„Aber niemand lässt sich gerne erpressen“, fügte Chalice hinzu.
„Ich werde es alles nicht erleben.“ Lysistratos sog schnaufend Luft durch seine Tracheen.
„Aber du bist derjenige, der uns lehrt, dass man über das Dasein, über Regeln, nachdenken kann“, nickte ihm Xenia zu. „Das ist sehr viel wert. Erst so erkennt man, welche Regeln gut und welche schlecht sind.“
„Und vielleicht finden wir irgendwann einen Weg, wie die Völker weiterleben können und gleichzeitig die Drohnen nicht sterben müssen?“
Xenia schmunzelte traurig: „Du klingst wie Amalthea. Sie ist ganz begeistert von dir. Sie meint, sie hat so viele Ideen, sie weiß gar nicht, wie sie sie sortieren soll! Ideen über Miteinander, mehr Effizienz für das Volk, mehr Anerkennung. Sie wird jeder einzelnen Drohne einen Namen geben. Jede Biene wird einen Namen bei ihr bekommen.“
„Das ist ein Anfang“, bestätigte Chalice.
„Ein kleiner… Und vielleicht, ja, vielleicht überleben irgendwann auch die Drohnen. Wer weiß?“
„Ein kleiner Schritt für uns, ein großer für die Bienenschaft…“
„Bitte?“ erstaunt blickten Lysistratos und Xenia zu der alten Arbeiterin, die nur mit den Fühlern zuckte.
„Ich weiß auch nicht, ist mir gerade so eingefallen.“
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Eine weitere Große Dunkelheit war vorbeigezogen, und Lysistratos hatte einen Entschluss gefasst. Er wurde immer schwächer, doch noch fühlte er sich stark genug, noch einmal auf eine Reise zu gehen. Eine kurze Reise. Seine letzte Reise…
Er krabbelte zu Xenia, die sich gerade mit Chalice unterhielt. Er mochte Xenia sehr. Ihre vielen langen Unterhaltungen während der Großen Helligkeiten hatten es ihm unmöglich gemacht, ihre körperliche Attraktivität wahrzunehmen. Sie war eine blühende Schönheit, wenn auch relativ klein. Sie war schlank und kräftig, mit langen, wunderschön gebogenen Beinen, glitzernden Augen, einem atemberaubenden Pelz. Und der verbogene Fühler… Lysistratos liebte diesen verbogenen Fühler!
„Xenia…“
Sie strich ihm zärtlich über seine Fühler.
„Ich möchte noch einmal ausfliegen.“
„Fühlst du dich…?“
Lysistratos schluckte: „Ich meine das anders, meine Königin. Ich, ich werde sterben, aber ich glaube, ich kann meinem Leben noch einen ganz speziellen Sinn geben… Ich bin die letzte noch lebende Drohne.“
Chalice klappten ihre Beißwerkzeuge auseinander, und Xenia wirkte wie vom Schlag getroffen: „Du… willst…?“
„Ich möchte, dass du ein Volk gründen kannst.“
„Das ist reichlich spät“, merkte Chalice an.
„Ich kann nicht sicherstellen, dass das Volk in der Zeit vor der Großen Kälte überlebt. Dass deine, unsere Kinder…“, erwiderte Xenia.
„Wenn jetzt nicht, werde ich nie Kinder haben“, unterbrach Lysistratos die junge Königin. „Und du wiederum weißt nicht, ob du im nächsten Jahr noch fruchtbar sein kannst, wenn du bei den Großen Flügen mitmachst und neue junge Königinnen kommen.“
„Lysistratos, du machst jetzt genau das, was du gerade nicht wolltest.“
Er nickte: „Ich tue das nicht, weil ich muss, Xenia. Ich tue es, weil ich es jetzt, in diesem Augenblick, möchte. Es ist meine Entscheidung. Meine eigene Entscheidung. Ich kann entscheiden, ob ich möchte oder nicht.“
Wortlos nahm sie ihn in ihre Fühler und begann zu weinen.
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Die letzte Große Dunkelheit hatten sie gemeinsam verbracht, eng aneinandergeschmiegt. Er hatte sie gestreichelt und sie ihn, und er genoss den Zauber, der von ihr ausging. Er fühlte sich noch einmal stark und kräftig, als ob er eine junge Drohne wäre.
Und nun standen sie vor dem Flugloch. Xenia gab ihm eine letzte Umarmung und verließ den Bau. Chalice wischte sich eine Träne von den Facetten und wisperte: „Lysistratos, ich verspreche dir, ich werde deinen Kindern von dir berichten. Was eine Drohne kann.“
„Ich weiß, Chalice, ich weiß.“
Dann flog er los, hinauf in die Luft. Es war schwierig, und er fühlte, dass ihm nicht viel Zeit blieb, sich in der Luft zu halten. Aber dann roch er sie. Xenia!
Sofort hatte er sie gefunden, am Waldrand, oberhalb von Amaltheas Bau, und irgendwie hatte er das Gefühl, als ob auch Königin Amalthea, während ihre Arbeiterinnen geschäftig aus- und einflogen, hinausschauen würde. Er sah, wie einige Arbeiterinnen sich ihm näherten, und eine rief: „Lysistratos, auf deine Nachkommen! Hurra!“
Es bewirkt etwas, dachte er. Diese Arbeiterinnen waren freundlich zu ihm, wedelten ihm aufmunternd zu, und ihr Gelächter war nicht bösartig.
Er flog empor zu Xenia. Ihr Duft, den sie nun verströmte, nur für ihn, nur in diesem Augenblick, war so betörend. Sie war so wunderschön. Sein Körper regte sich, drängte in ihre Richtung, und diesmal ließ er es zu, folgte dem Verlangen.
Er sah die Tränen der Trauer in Xenias Augen, während sie ihn dennoch anlächelte, und dann, dann hatte er ihre Öffnung gefunden… Das Gefühl war atemberaubend, während alles um Lysistratos im Nichts versank.
Götterdämmerung
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