Vorsichtig hatte er mit einigen seiner Kameraden gesprochen. Er hatte geglaubt, dass er auf Erstaunen oder Entsetzen stoßen würde, doch die meisten lachten nur.
„Was? Wir müssen sterben? Na ja, so wie du das schilderst, ist es wenigstens ein schöner Tod“, sagte eine Drohne.
„Sterben? Das müssen wir alle“, erwiderte eine zweite. „Ich habe auch Arbeiterinnen sterben sehen. Und das, was ich in meinem Körper fühle, das ist es wert, dafür zu sterben. Immerhin muss ich nicht schuften, und ich werde gefüttert. Das ist doch ein schönes Leben.“
„Aber…“, machte Lysistratos.
„Sag‘ mal, du hast wirklich abgelehnt, Amalthea zu besteigen?“ eine dritte Drohne schüttelte den Kopf. „Diese Flügel, diese Taille, dieser Duft… Ach, wäre ich gestern schon alt genug gewesen, ich wäre ihr gefolgt.“
„Du Depp!“ erregte sich Lysistratos, „danach hast du keine Flügel, keine Taille, keinen Duft mehr! Du bist tot, weg, nicht mehr da. Nichts mehr essen, keine Luft, kein Leben! Kapierst du das? Kapiert ihr das?“
Schweigen…
Die Drohnen hatten Lysistratos die Große Helligkeit über misstrauisch beäugt, und sie mieden ihn. Selbst die Arbeiterinnen hatten bemerkt, dass etwas Seltsames vor sich ging. Während dieser Großen Helligkeit hatte es keinen Großen Flug gegeben, aber es sah danach aus, dass morgen die letzten Großen Töchter ausfliegen würden. Xenia, Königin Rubinrots jüngste Große Tochter, krabbelte auffällig oft in Richtung des Flugloches. Bisher hatte sie sich davon ferngehalten. Lysistratos mochte Xenia. Sie war überaus hübsch und sehr zierlich. Einzig und allein ihr rechter Fühler war etwas geknickt, aber das gab ihr eine verwegene Note. Xenia kümmerte sich zwar nicht um die Drohnen, sie ärgerte sie aber auch nicht. Und das rechnete ihr Lysistratos hoch an. Amalthea… Amalthea hatte die Drohnen auch nicht drangsaliert, erinnerte er sich. Und sie hatte mit ihm gesprochen. Zwar auf ihre Weise und herablassend, doch sie hatte sogar seinen Namen akzeptiert. War das nicht schon etwas, dass eine Königin einem Drohn überhaupt zugehört hatte?
Ich kann etwas ändern! sagte Lysistratos immer wieder zu sich. Wenn nur diese anderen Drohnen nicht so körpergesteuert wären.
„Du?“
Lysistratos bemerkte die kleine Drohne, die kurz vor seinem Ausflug mit Amalthea am Flugloch gestanden hatte.
„Stimmt das wirklich alles, das wir nur dazu da sind, dass wir sterben?“
„Ja. Warum erzähle ich das sonst?“
„Ich habe mit ein paar von den ganz jungen Drohnen gesprochen. Sie haben Angst, dass sie aus dem Stock geworfen werden, wenn alle Großen Töchter fort sind und sie noch nicht ausfliegen können.“
„Das wird so geschehen.“
„Weißt du das sicher? Warum sollten die Arbeiterinnen das tun?“
„Weil wir einzig und allein dazu da sind, unseren Samen den Großen Töchtern zu schenken. Ansonsten stören wir nur.“
Die Fühler der kleinen Drohne wippten nachdenklich: „Das ist nicht fair, oder?“
„Nein, das ist es nicht.“
„Wir haben keine andere Wahl?“
„Nicht, wenn wir nichts dagegen tun.“
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Während der folgenden Großen Helligkeit versammelten sich die letzten Großen Töchter für den letzten Großen Flug der Saison. Alle verbliebenen Drohnen waren am Flugloch versammelt, doch diesmal war kein aufgeregtes Summen zu hören. Es war überraschend still.
Königin Rubinrot schien zunächst nichts davon mitzubekommen. Sie verabschiedete sich von ihren Töchtern, und dann flogen die ersten davon. Einige Drohnen wollten ihnen folgen, wurden aber von ihren Kameraden zurückgehalten.
„Was ist los?“ Überrascht verzog Walburga die Beißwerkzeuge. „Müssen wir euch zu eurem Glück zwingen, Drohnen?“
„Zu unserem Glück?“ Lysistratos trat vor. Er zitterte am ganzen Leib. Er war zwar größer als Walburga, und er war auch kräftig und gesund, doch er hatte nur schwache Beißwerkzeuge und keinen Stachel. Walburga hingegen war eine Kämpferin. Und sie war nur eine von Hunderten in diesem Volk.
„Was willst du damit sagen, Drohne?“
„Ich will damit sagen, dass keine Drohne diesen Stock verlassen wird.“
„Was?“ Rubinrot hatte die Diskussion mitbekommen und krabbelte zu ihnen. „Was höre ich da? Eine Drohne, die nicht fliegen möchte?“
„Nicht eine Drohne, erhabene Königin.“ Demütig senkte Lysistratos seinen Kopf und zog die Fühler nach unten. „Alle Drohnen. Wir wollen nicht sterben.“
Kein Geräusch war zu hören. Alle anwesenden Bienen schauten nun auf Rubinrot und Lysistratos.
„Wir schmeißen sie einfach raus“, brummte Walburga. „Unruhestifter. Hat sich dann ganz schnell erledigt, und nach der nächsten Großen Kälte haben wir wieder eine vernünftige Drohnen-Truppe.“
„Eine, die das macht, was ihr wollt?“ schrie eine Drohne.
„Eine Truppe, die einfach stirbt?“ rief eine andere. Zustimmendes Gemurmel durchlief die Drohnen.
„Lasst sie uns rauswerfen, erhabene Königin“, grunzte Walburga. „Wir brauchen sie nicht.“
„Und so etwas habe ich gefüttert“, raunzte eine andere Arbeiterin und schüttelte angewidert ihren Kopf, nur um sich sofort mehrfach die Mundwerkzeuge zu reinigen.
„Wir werden nur deshalb gefüttert, damit wir Eure Großen Töchter befruchten“, sagte Lyistratos mit zitternder Stimme. Er hatte große Angst. Sie hatten alle Angst, doch sie hatten, bis tief in die Dunkelheit, mit den anderen Drohnen gesprochen. Erst er und die kleine Drohne, und dann wurden es immer mehr. Lysistratos hatte gelernt, dass Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit zum Ziel führen konnten.
„Stimmt“, erwiderte eine der Großen Töchter. „Und wo ist das Problem?“
„Ihr lebt, wir aber nicht“, fluchte eine erregte Drohne.
„So ist es eben. Du kannst es nicht ändern.“
Eine weitere Große Tochter mischte sich ein: „Seht es mal so. Ihr Schmarotzer habt ein schönes Leben gehabt, ihr wurdet gefüttert und beschützt durch uns und unsere Schwestern, die Arbeiterinnen…“
„Wir sind Eure Brüder!“ rief Lysistratos.
„Brüder?“ Verwundert schauten die Großen Töchter und die Arbeiterinnen zu ihm.
„Wir haben alle dieselbe Mutter. Königin Rubinrot.“
„Du stammst aus einem minderwertigen Ei, Drohn“, grollte die alte Königin. „Du maßt dir an, an dem Gesetz des Lebens zu rütteln? Was fällt dir ein?“
„Rausschmeißen!“ vermeldete Walburga zum wiederholten Mal.
„Bruder!“ lachte eine der Großen Töchter und wackelte belustigt mit den Fühlern. „Er kommt aus einem unbefruchteten Ei und bildet sich ein, er sei etwas Besonderes.“
„Ich bin nichts Besonderes“, erwiderte Lysistratos. „Ich möchte nur nicht unnütz sterben.“
Wütend funkelte ihn Rubinrot mit ihren Facettenaugen an: „Du wagst es, dich als mein Kind zu bezeichnen? Sei froh, wenn du eine meiner Töchter anrühren darfst!“
„Sie muss angerührt werden, ansonsten gibt es keine neuen Völker. Wenn wir Drohnen nicht mitmachen, dann sterbt Ihr aus.“
„Jawohl!“ riefen die Drohnen im Chor.
Selbst Walburga verschlug es nun die Sprache. Rosenduft war neben sie getreten und schien beinahe belustigt ihren Kopf zu wiegen. Und Xenia, die zarte Große Tochter, Rubinrots Jüngste, warf Lysistratos einen Blick zu, den er nicht deuten konnte, aber ihm wurde warm am ganzen Körper.
„Mutter“, sagte eine der anderen Großen Töchter in die folgende Stille, „wenn diese Drohnen nicht mitmachen, werden wir nie Königinnen. Wir werden nur Drohnen gebären. Widerliche Drohnen…“ Die junge Biene war den Tränen nahe.
„Buuh“, machten einige der Drohnen.
„Und so etwas wollte ich anfassen!“ kreischte eine kleine Drohne, die sich vorher noch lange ausschließlich darüber ausgelassen hatte, wie schön doch die Großen Töchter seien, ohne Lysistratos zuzuhören. Lysistratos hatte gelernt, wie schmal der Grat der Aufmerksamkeit war, wie wankelmütig das Wesen einer Biene sein konnte…
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