Cahusac entschied schließlich mit einem Nicken zu Sorel: »Geh mit!«
Der Jüngere straffte seine Gestalt. Er stand in seinem zweiten Dienstjahr, noch hatte er sich seinen Eifer bewahrt und nahm gern die Rolle des Kindermädchens ein. D'Artagnan fragte sich einen flüchtigen Moment lang, ob er selbst mit zwanzig Jahren ebenso enthusiastisch, ein wenig spitzbübisch dabei, »Jawohl!« gerufen hätte. Sorel war erfrischend unschuldig und so bedachte der ehemalige Musketier Cahusac mit einer gehobenen Braue. »Danke, ich kenne den Weg zum Kabinett Seiner Eminenz bestens.«
»Dahin? Gut.« Cahusac wies mit einladender Geste hinter sich. D'Artagnan sparte sich einen weiteren finsteren Blick und trat an dem altgedienten Soldaten vorbei. Mit zwei Schritten schloss Sorel zu ihm auf und ließ sich auch nicht mehr abschütteln oder zur Umkehr bewegen.
Im Palais schloss sich bald eine weitere Galerie an die Treppe an. Richelieu hatte das ehemalige Hôtel d'Angennes nach dem Kauf prächtig ausstatten lassen. Weitläufig war es vorher schon gewesen, jetzt konnte man es noch überaus glanzvoll, gar pompös nennen. Jeder Winkel spiegelte den Einfluss und die Macht des Hausherrn wider, von den Säulengängen bis zur berühmten Gartenanlage. Das Palais war an schierer Größe und Prunk einem König angemessen.
»Hier entlang.« Sorel übernahm die Führung und d'Artagnan musste widerwillig eingestehen, dass der Gardist einen kürzeren Weg zu ihrem Ziel einschlug als ihn der Leutnant gewählt hätte. Unterwegs begegneten sie einigen livrierten Dienern, ab und an auch einer Magd. Bald würde der ganze Haushalt wissen, wer heute zu Gast war.
D'Artagnan bemerkte mit geschultem Blick andere Gardisten auf ihren Posten an wichtig erscheinenden Flügeltüren oder Treppenaufgängen, abseits der Nebenwege, denen Sorel und er folgten. Der Anblick versetzte ihm einen Stich. Eine intakte Leibgarde im falschen Uniformrock. Welchen Hohn und Spott es von den Musketieren gehagelt hätte, wenn die Garden des Kardinals aufgelöst worden wären! Aber Jussac musste seinen Männern eingeschärft haben, sich in Zurückhaltung zu üben und, zum Wohl der Stadt, keinen Streit darüber zu provozieren. Auch das schmerzte.
An der Doppeltür zum Kabinett des Ersten Ministers hielten zwei weitere Gardisten Wache. Sorel grüßte die Kameraden und ohne weitere Umstände oder neuerliche Diskussionen durften sie ins Vorzimmer eintreten. Cahusac hatte wahrlich eine kluge Entscheidung getroffen, d'Artagnan nicht allein gehen zu lassen. Sorel war sein Passierschein.
D'Artagnan rief sich innerlich zur Ordnung. Er musste den eigenen Groll überwinden, seinen Stolz zurückstellen und selbst weiser handeln. Gelassenheit statt Zorn war hier gefordert. Er machte ein paar Schritte ins Vorzimmer hinein, Sorel hingegen wandte sich zum Gehen, was ihm einen verwunderten Blick des Leutnants einbrachte.
Der Gardist schien die unausgesprochene Frage zu ahnen und beantwortete sie mit einem Schulterzucken. »Cahusac hat Euch auf Ehrenwort durchgewinkt. Ich habe Euch begleitet, damit ist diese Angelegenheit erledigt.«
D'Artagnan nickte langsam. Offenbar genoss er unter seinen Feinden noch immer den Ruf, sich an sein Wort zu halten. Sie gestanden ihm weitaus mehr Ehre zu, als er sich selbst.
Einen Augenblick lang sah er Sorel nach, dann ging er allein weiter. Bis auf einen livrierten Diener, der über die Anordnung der Stühle und Sitzbänke entlang der Wände wachte, war sonst niemand anwesend. Nun, fast: Außerdem sah sich der Leutnant von Rochefort gemustert, der sich am anderen Ende des Raums an der Tür zum eigentlichen Kabinett befand.
D'Artagnan unterdrückte eine erste Regung, trotzig die Arme zu verschränken. Für solche Gesten war er entschieden zu alt, auch wenn sich Rochefort zu gern väterlich wohlwollend und nachsichtig ihm gegenüber gab. Stattdessen marschierte er festen Schrittes hinüber und grüßte: »Ihr hättet der Leibgarde Eures Dienstherrn mitteilen sollen, dass ich einbestellt worden bin.«
»Das hätte ich. Wenn ich tatsächlich mit Eurem Erscheinen gerechnet hätte.« Rochefort machte keinen Hehl daraus, dass er nach ihrem Gespräch gestern den Leutnant beinahe aufgegeben hatte. Umso sarkastischer bemerkte d'Artagnan: »Für derart viele 'wenn' und 'hätte' wartet Ihr überraschend geduldig auf mich.«
»Ich bin ein Freund geringer Chancen, das wisst Ihr. Und ich warte offenbar nicht vergeblich, ein gutes Zeichen. Was macht das Auge?«
»Ihr seht Zeichen, wo keine sind.« teilte d'Artagnan unwirsch mit und ignorierte die Frage. »Ich kann jederzeit wieder gehen.«
»Jederzeit.« Rochefort gab dem Diener einen stummen Befehl, der daraufhin das Vorzimmer verließ. »Aber erst nach dieser Unterredung.«
Kaum gesagt, wurde die Tür zum Arbeitszimmer von einem weiteren Lakai geöffnet. Offenbar war d'Artagnans Ankunft bereits gemeldet worden und kurz schmeichelte es ihm, dass er wichtig genug schien, um nicht warten gelassen zu werden. Natürlich irrte er sich. Rochefort hielt ihn am Arm zurück, als er schon die Schwelle übertreten wollte.
Genau in diesem Moment marschierte aus dem Kabinett mit wütender Eile ein älterer Herr. D'Artagnan schätzte ihn mit dem ersten, flüchtigen Ansehen auf etwas über fünfzig Jahre. Sein harter Blick aus grauen Augen und die aufrechte Haltung ließen auf einen selbstbewussten Charakter schließen. Die teure Kleidung, sein ganzer Auftritt standen einem Adeligen von nicht geringem Rang zu. Ein Graf oder gar Herzog? Eine steile Zornesfalte stand ihm auf der Stirn, unzweifelhaft war er in Streit mit dem Ersten Minister dort drinnen geraten. Das musste man sich mit Richelieu erst einmal wagen!
D'Artagnan wusste dem Herrn weder vom Gesicht noch von den Farben, die er trug, einen Namen zuzuordnen. Er konnte kein häufiger Gast am Hof sein. Oder sein Status hielt keine Notwendigkeit für ihn bereit, sich dauerhaft in der Nähe von König und Kardinal aufzuhalten. In seinem Tross befanden sich zwei weitere Männer, unzweifelhaft eine persönliche Garde in Alltagskleidung. Ein Adjutant oder Sekretär und irgendein jüngerer Verwandter vielleicht, bestens ausgebildet und treu ergeben.
D'Artagnan wich sofort respektvoll aus, als der Monsieur raumgreifend vorbeischritt. Seine Begleiter folgten ihm auf dem Fuße, ein wenig überhastet sogar ob der Zielstrebigkeit des Alten. D'Artagnan wurde im Vorübergehen nur eines flüchtigen Blickes gewürdigt. Rochefort erhielt sogar ein missbilligendes Stirnrunzeln. Man kannte sich wohl.
Der Stallmeister neigte respektvoll den Kopf und d'Artagnan tat es ihm befehlsgewohnt gleich. Mehr zur Aufklärung des Freundes denn als tatsächlicher Gruß bestimmt, sagte Rochefort halblaut in der Verbeugung: »Monseigneur de la Nièvre.« Er erhielt keine Antwort.
D'Artagnan klang der Name nicht vertraut und wenige Momente später verließen die drei Besucher das Vorzimmer. Ihre Schritte verhallten hinter der Tür und d'Artagnan kam diese ganze Begegnung unwirklich vor. Als er wieder aufsah, war Rochefort nicht mehr neben ihm.
Kurz darauf verstand er die plötzliche Hast, mit der der Stallmeister das Arbeitszimmer betreten hatte und wohin ihm der Leutnant nun schlussendlich folgte: Richelieu sah schlecht aus. Der sonst so unnahbare, machtvolle Mann stand gebeugt auf seinen Schreibtisch gestützt, als laste ihm nach all den Jahren unermüdlichen Staatsdienstes die Verantwortung zu schwer auf den Schultern. Ein feiner Schweißfilm glänzte auf seiner Stirn. Er wirkte blass, geschwächt. Jetzt hustete er heftig. Rochefort war sofort neben ihm und reichte ihm ein Kristallglas mit frischem Wasser.
D'Artagnan blieb unschlüssig in einigem Abstand stehen. Während Rochefort sich um seinen Herrn bemühte, zog d'Artagnan diskret die Tür zum Kabinett zu. Teils, um sich in dieser ganz unerwarteten Situation halbwegs nützlich zu machen, teils, um sich mit einem Vorwand abwenden zu können und nicht den Kardinal anzustarren. Er überspielte seine Verlegenheit, indem er den Raum betrachtete. Die Einrichtung war zweckmäßig. Große Fenster ließen das Tageslicht ein. Die schweren Samtvorhänge dienten wohl nur der Zierde, ähnlich der wertvolle, schwere Wandteppich auf der gegenüberliegenden Seite. Das Motiv konnte der Leutnant nicht zuordnen. Etwas geschichtsträchtiges wahrscheinlich, d'Artagnan hatte sich nie mit derlei Dingen beschäftigt. Er war ein Mann der Waffen und nicht der Kunst. Deshalb wirkten die Regale mit den unzähligen Büchern und Codices auf ihn nicht nur kostbar, sondern auch einschüchternd. Konnte ein Mann in seinem Leben so viel lesen? Was davon war gar selbst verfasst?
Читать дальше